Dienstag, 10. April 2012

Stresstest Deutschland


Buchbesprechung

Jens Berger: Stresstest Deutschland. Wie gut sind wir wirklich?, Westend Verlag, Frankfurt 2012.



Die Finanz- und die darauf folgende Wirtschaftskrise hält nun seit vier Jahren an. Und die von Angela Merkel aufgenötigte Fiscal Austerity greift in der Eurozone mittlerweile um sich. In Griechenland, Italien, Portugal und Spanien verhindern Sparmassnahmen wichtige Investitionen, während die Steuereinnahmen sinken.

Kurzum: die Folgen des deutschen neoliberalen Wirtschaftsmodells im Euro-Raum sind gravierend: zunehmende Arbeitslosigkeit, Lohnsenkungen („internal devaluation“), soziale Spaltung, der sich ausweitende Niedriglohnsektor und eine sich allmählich beschleunigende Abwärtsspirale. Und die Schuldensituation, die eine direkte Folge der Finanzkrise ist, verschlimmert sich.

Die von Kapitalmärkten angeforderten und von Teknokraten gebildeten Regierungen schicken sich an, mit dem Sozialabbau die Depression der post-modernen Zeit zu umarmen. Am deutschen Wesen soll also Europa genesen. Wie steht es aber mit Deutschland selbst? Besteht der stolze Vizeweltexportmeister den Stresstest?

Jens Berger befasst sich vor diesem Hintergrund mit Fragen und Problemen der umwerfenden Entwicklungen, die seit Beginn der Finanzkrise auf Deutschland und Europa lasten.

Bergers Ziel ist die Leserschaft zum Nachdenken anzuregen und wachzurütteln, zumal (1) die Medien (v.a Meinungsmacher) keine aufklärerische Aufgabe erfüllen, vermeintliche Wahrheiten nicht hinterfragen und Alternative nicht aufzeigen und (2) die „Politik in zentralen Fragen dauerhaft gegen den Mehrheitswillen der Bevölkerung regiert“.

Was ist aber die Benchmark für den Stresstest für ein Land? Einerseits ist es „eine gerechte Gesellschaft, in der Einkommen, Vermögen und Macht möglichst gleich verteilt sind, in der die Menschen keine Angst vor sozialem Abstieg haben müssen und die sich durch eine hohe Einkommens- und Bildungsmobilität auszeichnet“. Und andererseits ist es „ein aktiver Staat, der sein Handeln am Wohl seiner Bürger ausrichtet“.

Schliesslich steht der Mensch im Mittelpunkt der Verfassung eines jeden demokratischen Rechtsstaates in der zivilisierten Welt. In der Präambel der Verfassung der Schweiz heisst es, dass die Stärke des Volkes sich am Wohl der Schwachen misst. Die von Angela Merkel geförderte „marktkonforme“ Demokratie geht aber, um es milde auszudrücken, ohne Zweifel daran vorbei. Denn in dieser Agendapolitik sind nicht die Menschen, sondern die Banken und Finanzunternehmen „systemrelevant“.

Wie das Finanzsystem die Realwirtschaft destabilisieren kann, erleben die Menschen am eigenen Leib. Fast jede/r Vierte arbeitet in Deutschland im Niedriglohnsektor. Wie aus einer im Dezember 2011 vorgelegten OECD-Studie hervorgeht, ist in den letzten 20 Jahren in keinem Industrieland die Enkommensungleichheit so stark gestiegen wie in Deutschland. Und die Politiker reden (zynisch) von einem XXL-Aufschwung, obwohl die Binnennachfrage stagniert. Heiner Flassbeck deutet in diesem Zusammenhang auf den deutschen Einzelhandelsumsatz hin, der im Dezember 2011 auf einem Wert von 96,7 lag, wenn man den Wert von 2005 gleich 100 setzt. Die Menschen haben also in Deutschland kein Geld in der Tasche. Guido Westerwelle, der ehemalige FDP-Vorsitzende und der Stellvertreter der Bundeskanzlerin attestiert hingegen Hartz-IV-Empfängern „anstrengungslosen Wohlstand“ und „spätrömische Dekadenz“.

Und die Lobbyisten lullen das Volk in den grotesken und manipulativen TV-Talkshows nicht nur arglistig ein, sondern nisten sich allmählich auch in Regierung ein. Die FDP holt sogar Verbandsmitarbeiter in die Ministerienspitzen, um an Gesetzesentwürfen mitarbeiten zu lassen, was ein krasser Rechtsverstoss bedeutet.

Berger erklärt, wie einzelwirtschaftliches Denken für die Gesamtheit falsch ist. Der Autor lässt kein wichtiges Thema aus. Lobbyismus, Sozialpolitik, Steuersystem, Gesundheitspolitik und Finanzpolitik werden jeweils in einem einzelnen Abschnitt (pro-contra) erläutert. Selbstverständlich ist er für einen "demokratiekonformen Markt", nicht für eine „marktkonforme Demokratie“.

Jens Berger ist freier Journalist und Herausgeber des lesenswerten Blogs Spiegelfecter und seit einiger Zeit auch als Redakteur bei NachDenkSeiten (einem Blog, der unerschütterlich allen Schwierigkeiten zum Trotz die Wahrhaftigkeit gegen die Meinungsmache in der Mediokratie verteidigt) tätig. Ein starkes Buch. Bitte lesen und lesen lassen.

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