Freitag, 23. Dezember 2011

Lost Decades

Buchbesprechung:

Menzie D. Chinn and Jeffry A. Frieden: Lost Decades. The Making of America’s Debt Crisis and the Long Recovery. W.W. Norton, New York, London, 2011.


Vor dem Hintergrund der besonderen Merkmale der 2000er Jahren (Ersparnisschwemme, ein klassischer Kapitalstrom-Zyklus, ausserordentlich niedrige Zinsen, welche zur Kreditaufnahme animieren, Steuersenkungen, Deregulierung, z.B. Schatten Bankensystem, und Finanzierung von Kriegen) erkunden Menzie Chinn und Jeffry Frieden in diesem lesenswerten Buch zunächst die ökonomischen und die politischen Ursprünge der Krise. Dann erklären sie aufgrund der Nachfrage und Angebot-Konstellation die langfristigen Auswirkungen der Great Recession auf die US-Wirtschaft.

Im Mittelpunkt der Argumentation der kongenialen Autoren steht der Ansatz „Capital Flow Cycle“. I.d.R. ist es so, dass das Kapital von den entwickelten Ländern in die Entwicklungsländer fliesst. Es hat sich hierbei aber etwas Grundsätzliches verändert, sodass das Kapital ziemlich rasch in die USA zugeflossen ist. Die USA waren anschliessend mit ähnlichen Risiken wie einst die Entwicklungsländer konfrontiert.

Die Nachfrage nach Fremdkapital stieg hauptsächlich aus zwei Gründen: (1) aus Steuersenkungen durch Ronald Reagan und George W. Bush, wobei die zur Verfügung stehende Gelder für die Kriege im Irak und in Afghanisten eingesetzt wurden und (2) aus dem Anstieg des schuldenfinanzierten Konsums unter privaten Haushalten.

Die massive Schuldenexpansion hat sich im Leistungsbilanzdefizit niedergeschlagen. In den 1990er Jahren belief sich das Defizit auf 100 Mrd. $ im Jahr. In den 2000er Jahren weitete sich die Lücke im Durchschnitt auf 600 Mrd. $ pro Jahr aus.

Das Angebot an Fremdkapital stammte hauptsächlich aus drei Quellen: (I) aus wohlhabenden Privatinvestoren (im Zug der zunehmenden Ungleichheit), (II) aus den Erdöl exportierenden Ländern im Mittleren Osten und ihren Staatsfonds (Sovereign Wealth Funds) und (III) aus den hohen Fremdwährungsreserven in verschiedenen asiatischen Ländern, v.a. aus China.

Das Schlimme dabei war, dass das Fremdkapital (a) nicht produktiv eingesetzt wurde. Und (b) dass das Phänomen, das man früher in den Entwicklungsländern gekannt hat, diesmal in einer hochentwickelten Volkswirtschaft aufgetreten ist: Das Geld hat zu spekulativen Blasen im Immobilienmarkt (subprime), im Aktienmarkt (High Tech Bubble) und im allgemeinen im Finanzmarkt (Finanzinnovationen wie CDO, CDS, und vielfältige Derivate, die Waren Buffet zutreffend „finanzielle Massenvernichtungswaffen“ nannte) geführt.

Der amerikanische Staat hat also zwei massive Steuersenkungen und zwei Kriege mit Niedrig-Kosten, die von ausländischen Investoren und Zentralbanken bereitgestellt wurde, finanziert. Die Politiker haben dabei ihre eigenen Ratschläge, die sie für andere Länder erteilten, ignoriert: die Gefahr von übermässigen Defiziten, fremdfinanziertem Verbrauch und extrem lockeren Regulierung, legen Menzie Chinn, University of Wisconsin und Jeffry Frieden, Harvard University dar.

Die USA waren 2008 der weltweit grösste Schuldner. Mehr als 2/3 der ausstehenden US-Staatsanleihen in Höhe von 6‘000 Mrd. $ lag in ausländischen Händen. Sowohl der Boom im Immobilienmarkt als auch der Boom im Privatverbrauch waren bis zum Ausbruch der Finanzkrise (2008) durch den massiven Kapitalzufluss aus dem Ausland angetrieben.


US Bundeshaushalt (blau) und Leistungsbilanz (rote), Graph: Prof. Menzie Chinn und Prof. Jeffry Frieden

Bemerkenswert ist, wie die Autoren die politischen Strategien hinter der von der Bush-Regierung verfolgten Politik der Finanzierung der massiven Defizite erkunden. Die Krise war vorausgesehen und hätte durch angemesse politische Massnahmen verhindert werden können.

Als George W. Bush (republikanische Partei) das Amt übernahm, lag der Haushaltsüberschuss bei 236 Mrd. $. Wohlgemerkt, überlassen von der Clinton Regierung (demokratische Partei). Die Bush-Steuersenkungen haben dazu geführt, dass die Staatseinnahmen jährlich um 400 Mrd. $ gesunken sind: von 21% des BIP im Jahr 2000 auf 16% des BIP im Jahr 2004. Es entstand daraus ein Haushaltsdefizit von 413 Mrd. $. Das heisst, ein Rückgang um 650 Mrd. $.

Der Titel lautet „Verlorene Jahrzehnte“, weil die Autoren grossen Wert auf die Mehrzahl legen. Ihrer Meinung nach stehen die Amerikaner ernsten wirtschaftlichen Herausforderungen gegenüber. Das erste Jahrzehnt des Jahrhunderts ging verloren: erstens an einen Boom (Aufschwung), welcher die reichsten Menschen bereicherte und zweitens an einen Bust (Pleite), welcher den Rest verarmte.

Die Kosten an Wirtschaftsleistung im Abschwung und die schleppende Erholung beziffern die Autoren auf 4‘000 Mrd. $, was einem Wert von 50‘000 $ pro Familie (mit vier Personen) entspricht. Die Wirtschaft dürfte demnach erst 2014 auf das Vor-Krisen-Niveau von 2007 zurückkehren.


Verluste der Volkswirtschaft (USA), Graph: Prof. Menzie Chinn und Prof. Jeffry Frieden

Die Probleme, die durch einen klassischen Kapitalstrom-Zyklus (capital flow cycle) ausgelöst und durch Deregulierung verstärkt wurden, sind nicht technischer, sondern politischer Natur. Es gibt keine Lösung ohne Lastenteilung. Eine Aufschiebung der Lösung erhöht die Kosten, fassen die Autoren als Fazit zusammen. Eine wirtschaftlich verantwortungsvolle und politisch machbare Lastenteilung aus der Krise erfordert höhere Steuern, ein effizientes Steuersystem und langsameres Wachstum für Medicare, halten Chinn und Frieden fest.

Chinn gilt als ein genialer Ökonom. Sein mit James Hamilton geschriebenes Blog Econbrowser ist eine Pflichtlektüre für alle Ökonomen mit Weitsicht und intellektuelle Neugier.

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