Buchbesprechung
Wolfgang Münchau: Kaput – The End of the German Miracle, Swift Press, November 2024, London.
Dieses Buch erzählt die Geschichte des Falls des Neo-Merkantilismus am praktischen Beispiel von Deutschlands Wirtschaftsmodell.
Was der Autor «Neo-Merkantilismus-Denkmentalität» nennt ist keine Politik, sondern ein System. Und jeder in Deutschland unterstützte es. Die Hauptprotagonisten waren die beiden größten Parteigruppen:
Merkels Christdemokraten, die CDU, und ihre bayerische Schwesterpartei, die CSU; und die Sozialdemokraten, die SPD.
Das Ziel des Neo-Merkantilismus ist es, große Exportüberschüsse zu schaffen:
«Es ist das Streben im 21. Jahrhundert à la französische Handelspolitik des 18. Jahrhunderts mit Unternehmen des 19. Jahrhunderts, die die Technologien des 20. Jahrhunderts nutzen.»
Das hat auch funktioniert, bis es nicht mehr funktioniert hat, so der deutsche Wirtschaftsjournalist.
Merkantilisten, alte und neue, sind misstrauisch gegenüber «disruptive technology» («bahnbrechende Innovationen»); sie handeln gerne mit physischen Gütern. Mit anderen Worten geht die merkantilistische Denkweise Hand in Hand mit «Techno-Phobie».
Wenn wir dazu auch die vorherrschende «fiscal and monetary austerity» in Deutschland zählen, ist das Ergebnis das deutsche Wirtschaftsmodell, ein protektionistischer, konservativer Ansatz.
Die Unterstützung für das neo-merkantilistische Modell geht über die Politik hinaus und spiegelt sich auch in der Art und Weise wider, wie die Medien über die Wirtschaft berichten. Zeitungen schreiben über Überschüsse auf die gleiche Weise wie über Fußball: mehrere Jahre erklärten die deutschen Medien Deutschland zum Export-Weltmeister.
Trotz der Tatsache, dass das Narrativ keine wirtschaftliche Bedeutung hat, war es im Grunde genommen die Feier eines wirtschaftlichen Ungleichgewichts - und einer politischen und wirtschaftlichen Abhängigkeit, die sich später als sehr ungesund und kostspielig herausstellte, argumentiert Münchau, der Direktor des Nachrichtendienstes Eurointelligence.
Das innenpolitische Gegenstück zum Neo-Merkantilismus ist der «Korporatismus». Damit ein Land eine merkantilistische Politik verfolgen kann, muss es Hand in Hand mit dem Unternehmenssektor arbeiten.
Jahrzehntelang haben Regierungen von links und rechts die deutsche nationale Politik im Interesse bestimmter Champion-Industrien untergeordnet. Die CEOs dieser ausgewählten Branchen hatten wiederum einen besonderen Zugang zur Regierung.
«Alle hängen zusammen. Jeder glaubt an das alte Industriemodell. Und so werden Fehlurteile im Unternehmenssektor verstärkt.»
Das Problem ist, dass in einer merkantilistischen Welt, wenn eine Fehleinschätzung getroffen wird, niemand da ist, um sie zu korrigieren. Denn alle sitzen im selben Boot.
Was in Deutschland geschah, war, dass die Industriepolitik auf Kosten der wirtschaftlichen Diversifizierung ging. Deutschland schuf ein Cluster-Risiko, indem es eine Reihe von korrelierten Wetten platzierte: sie setzten beispielsweise auf Kupferkabel, als das «Smart Money» auf Glasfaser umstellte.
In der deutschen Wirtschaftsdebatte geht es fast immer um Wettbewerbsfähigkeit, es darf aber nicht vergessen werden, dass Wirtschaft ≠ Industrie ist: Wettbewerbsfähigkeit ist ein relativer Begriff, die am meisten Wert hat, wenn er auf Unternehmensebene verwendet wird, und kaum für Länder geeignet ist, weil ein „Rattenrennen“ der Nationen sinnlos ist.
"Dem Niedergang und dem Fall des deutschen Neomerkantilismus gingen der Niedergang und der Fall der Landesbanken voraus", so der Autor weiter.
Die deutsche Industrie und der staatliche Finanzsektor sind die Zwillinge des neo-merkantilistischen Systems. Die Schwierigkeiten der deutschen Banken ließen die Schwierigkeiten der deutschen Industrie um etwa ein Jahrzehnt vorwegnehmen.
Es ist ein offenes Geheimnis, dass deutsche Unternehmen bei Innovation und Investitionen hinterherhinken. Das große Problem ist nicht so sehr die Wettbewerbsfähigkeit, sondern die Technologieschocks.
Dies gilt insbesondere für den deutschen Mittelstand, den familiengeführten Industriesektor, und der Staat bietet auch keine Anreize für Investitionen in digitale Technologie.
Die Telekommunikationsinfrastruktur ist oft nicht auf dem neuesten Stand. Und es gibt nicht genug privates Kapital für digitale Projekte. Im Gegensatz zu ihren US-Kollegen sind deutsche Risikokapitalgeber in der Regel nicht gut über die neuesten technologischen Entwicklungen informiert.
«Die Lohnzurückhaltung, die früher einer der Eckpfeiler des deutschen neomerkantilistischen Modells war, hat sich als Problem für die Anziehung von Wirtschaftsmigranten aller Art erwiesen.»
Deutschland ist zwar nicht ganz auf dem neuesten Stand, aber es geht dem Land nicht so schlecht. Das Problem ist das Versäumnis, eine KI-Industrie («künstliche Intelligenz») einzurichten. Der Grund dafür ist, dass das merkantilistische Deutschland sein Denken über die wirtschaftliche Entwicklung nur auf bestehende Industriesektoren eingegrenzt hat.
Wolfgang Münchau: Kaput – The End of the German Miracle, Swift Press, November 2024. |
Deutschland beschloss, nicht in die digitale Wirtschaft zu investieren, sondern sich auf die Kostenwettbewerbsfähigkeit seiner bestehenden Industrien zu konzentrieren.
Berlins altes Wirtschaftsmodell stützte sich auf qualifizierte Arbeitskräfte, billige Energie, Globalisierung und technologische Führungsrolle. All diese Faktoren, die so viel zu Deutschlands Gunsten gearbeitet hatten, haben sich innerhalb weniger Jahre umgedreht.
«Der große und anhaltende deutsche Leistungsbilanz-Überschuss, der im letzten Jahrzehnt bei über 8% ihren Höhepunkt erreichte, ist die herausragende Anomalie der deutschen Wirtschaftsstatistik.»
Die politische Landschaft ist zu zersplittert, um die Reformen umzusetzen, die Deutschland braucht, um den strukturellen Einbruch zu beenden. Deutschland ist hier nicht allein. Andere europäische Länder leiden unter dem gleichen Problem.
Wie der Autor mit Nachdruck betont, ist dies eine Erzählung dessen, was passiert ist, also kein Politikbuch. Wenn es eine einzige Maßnahme gibt, die Wolfgang Münchau vorschlagen könnte, wäre es eine europäische Kapitalmarkt-Union - die Vollmonty-Version mit einem einzigen Staatsvermögen. Das Ziel wäre es, die toxische Verbindung zwischen Banken und ihren Heimatregierungen sowie zwischen Banken und der alten Industrie zu brechen.
Das vorrangige Ziel der deutschen Wirtschaftspolitik besteht nicht darin, das Wohlergehen zu maximieren, sondern das Geschäftsmodell der Industrie (Ordo-Liberalismus, eine Mischung aus laissez-faire-Ökonomie, aber in einem legalistischen Rahmen vereinigt) zu schützen, was kläglich gescheitert ist. Deutschland muss sich nun auf eine postindustrielle Zukunft vorbereiten.
«Investitionen im öffentlichen Sektor sind wichtig.»
Das aufschlussreiche und prägnante Buch bietet wertvolle Einblicke in das deutsche Wirtschaftsmodell im Zeitfenster. Es ist schwer, das narrative Werk an Glaubwürdigkeit zu übertreffen, was die brisante Bedeutung des Falls der grössten Volkswirtschaft Europas für das ganze Kontinent betrifft. Das ist der Hammer. Unverzichtbar.
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