Montag, 9. August 2021

Zentralbankkapitalismus

Buchbesprechung

Joscha Wullweber: «Zentralbankkapitalismus» – Transformationen des globalen Finanzsystems in Krisenzeiten, Suhrkamp Verlag, Berlin, 06 Juni 2021.


Die modernen Zentralbanken nehmen eine Reihe von Aufgaben wahr. Das vorrangige Ziel ist es, die Preisstabilität zu gewährleisten und die Beschäftigung zu fördern.

Die Finanzstabilität sollte aber auch auf dem Radarschirm sein. Tatsächlich wurden die meisten Zentralbanken gegründet, um ein endemisches Problem der Instabilität von Finanzsystem zu lösen.

Dieses von Joscha Wullweber neulich verfasste Buch befasst sich ausführlich mit der Rolle der Zentralbanken in Krisenzeiten. Dass die Aufgabe des Kreditgebers der letzten Instanz (lender of last resort) in den vergangenen Jahren immer mehr an Bedeutung gewonnen hat, ist sicherlich ein offenes Geheimnis. 

Bekannt ist zudem auch, dass die zielgerichtete Zusammenarbeit zwischen Zentralbanken zur Stärkung der Wirksamkeit von nationalen Massnahmen zugenommen hat. 

Wullweber, Heisenberg-Professor für Politische Ökonomie, Transformation und Nachhaltigkeit an der Universität Witten-Herdecke, beschreibt uns die radikale und tiefgreifende Veränderung der Wirtschafts- und Finanzsysteme, die in der globalen Finanzkrise (GFC 2007-2008) offenbar geworden ist.

Seine Schlussfolgerung lautet, dass das heutige globale Finanzsystem ohne die Interventionen der Notenbanken nicht mehr funktionieren kann. 

Er erklärt uns, wie das Geld geschöpft wird und wieso. Es ist v.a. wichtig, die Funktionsweise des modernen Geldsystems richtig zu verstehen, da Zentralbanken in ihrer eigenen Währung theoretisch unbegrenzt Geld schöpfen können und die Unterscheidung zwischen Geld- und Fiskalpolitik zunehmend verwischt wird.

Im Mittelpunkt Wullwebers Analyse steht das Schattenbankensystem (Hedge Funds, Private Equity Firmen, Geldmarktfunds usw.), das den Kern des Finanzsystems bildet und zugleich die Quelle grundlegender Instabilität ist.

Der eingehende Vergleich des darlehensbasierten Kreditwesens (bank-based financial system) mit dem marktbasierten Kreditsystem (market-based financial system) ist ausserordentlich aufschlussreich.

Das Schattenbanken-System beruht auf einer privaten Absicherungsstruktur. (z.B. via CDS, Kreditausfallversicherungen), in deren Zentrum die Repos, die Rückkaufvereinbarungen, stehen.

Da aber der Glaube an die Effizienz deregulierter Finanzmärkte fehlgeleitet ist, funktioniert die private Sicherheitsstruktur des Finanzsystems in einer Krise nicht mehr.

Während der GFC und zu Beginn der Covid-19-Krise hat der Marktwert praktisch aller Wertpapiere rapide abgenommen. Bevor die Liquiditätskrise zu einer sich selbst erfüllenden Krise würde, mussten die Zentralbanken als „lender of last resort“ eingreifen. Das heisst, dass letztendlich Zentralbankgeld benötigt wird, um bestehende Verbindlichkeiten zu bedienen. 

Das „Vakuum“ wird also von den Zentralbanken gefüllt. Fest steht, dass die Zentralbanken während der GFC und der Covid-19-Krise die einzigen Institutionen waren, die als „dealer of last resort“ auch marktmachende Funktionen übernahmen.

Zur Erinnerung: Wenn die EZB Staatsanleihen kauft, erhöht sie die Geldbasis (Einlagen der Banken bei der EZB + Bargeldumlauf). Das bedeutet aber nicht, dass die Geldmenge zunimmt.

Wenn die gewählten Regierungen sich vor einer aktiven Fiskalpolitik scheuen, weil sie angetrieben durch das neoliberale Dogma, an effiziente, sich selbst stabilisierende Finanzmärkte glauben, und zudem sich die Hände «freiwillig» an manch wirtschaftlich unbegründete, pseudo finanzpolitische Regeln wie Schuldenbremse, 60% debt-to-GDP ratio usw. binden, ist es nicht verwunderlich, dass es für die Zentralbanken einer Herkulesaufgabe gleichkommt, mit pragmatischen Ad-hoc-Entscheidungen auf Krisen zu reagieren und (mit Zentralbankgeld) das Schattenbankensystem zu stabilisieren.



Wichtig ist, nicht zu vergessen, dass die politisch geprägte Deregulierung, angefangen in den 1980er Jahren, siehe Reagan in den USA und Thatcher in Europa, zu starken Verschiebungen hinsichtlich des Verhältnisses von Staat und Markt (bzw. Finanzsystem) beigetragen hat.

Das heisst im Grunde genommen, dass der Schwanz mit dem Hund wedelt: Wer heute eine fiskalische Austeritätspolitik befürwortet und sich gleichzeitig über anhaltende Niedrigzinsen beschwert, soll sich an die eigene Nase fassen.

Die gegenwärtigen unkonventionellen geldpolitischen Massnahmen der Zentralbanken sind die Ursache, sondern die Folge der Niedrigzinsen. Viele Regierungen haben es in der Zeit nach der GFC versäumt, Fiscal Stimulus bereitzustellen, weil sie die Ansicht vertraten, dass die Geldpolitik (d.h. die Zentralbanken) allein die Aufgabe erledigen könnte.

Zum Schluss stellt sich die Frage, ob der Zentralbankkapitalismus das Ende des neoliberalen Zeitalters und/oder eine Rückkehr des «starken Staates» bedeutet? Autors Antwort ist eindeutig: nein. Es handelt sich dabei um ein Laisser-faire, das künstlich am Laufen gehalten wird. Eine erstaunliche Elastizität zwischen Staat und Markt: «mehr Staat und mehr Markt». «Eine Anpassung der marktliberalen Logik an den Krisenmodus».

Ein wegweisendes Buch; eine scharfsinnig beobachtete, tiefgründige Darstellung der Funktionsweise des modernen Geldsystems und des vertrackten Finanzmarktes, der ohne Zentralbankgeld nicht überleben kann. 


Joscha Wullweber: «Zentralbankkapitalismus», Suhrkamp Verlag, Berlin, 06 Juni 2021.






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