Montag, 25. Mai 2020

Anti-System Politics


Buchbesprechung:

Jonathan Hopkin: Anti-System Politics – The Crisis of Market Liberalism in Rich Democracies, Oxford University Press, April 2020


Eine der vorzüglichen Eigenschaften, die dieses Buch lesenswert machen, ist das Narrativ. Der Autor redet nicht lange um den heissen Brei herum. Er nennt von Anfang an Ross und Reiter.

Der Aufstieg der Anti-System-Parteien ist seiner Ansicht nach auf eine klare Ablehnung des politischen Establishments auf beiden Seiten zurückzuführen: eine Abweisung des neoliberalen Konsenses. 

Beide (links und rechts) widersetzen sich harschen Folgen der Marktmacht, wenn auch auf unterschiedliche Weise: Ein Protest gegen die Ungleichheit und den wirtschaftlichen Schmerz, ausgelöst durch den Neoliberalismus.

Wie Trumps Wahl in den USA, die dem Brexit-Votum weniger als sechs Monate vorausging, war beispielsweise auch die britische Abstimmung über die EU ein Anti-System-Ausdruck, ein Votum der Missbilligung des bestehenden politischen Establishments und der Wirtschaftspolitik, die seit den 1980er Jahren auf der Tagesordnung steht.

Die neoliberale Wirtschaftsstrategie, anfangs vorangetrieben von Reagan in den USA und Thatcher in Grossbritannien, hatte zum Ziel, den Wohlfahrtsstaat zurückzudrängen, die Gewerkschaften zu marginalisieren und die Arbeits- und Finanzmärkte zu de-regulieren. So wurde der Lebensstandard der privaten Haushalte stärker von den Marktkräften abhängig gemacht. 

Das wirtschaftliche Schicksal eines durchschnittlichen Bürgers wurde m.a.W. vollkommen den Marktkräften überlassen: Marktkräfte, die vom Staat immer weniger leicht kontrolliert werden konnten, während die verzerrte Einkommensverteilung einen größeren Anteil des Einkommenswachstums an der Spitze konzentrierte.

Das wirtschaftspolitische Dogma „expansionary austerity“ wurde dabei als Instrument eingesetzt, um die Grösse des Staates zu reduzieren, um Steuersenkungen für die Reichen zu erleichtern und die Wirtschaft als „Moral-Play“ (gesellschaftliche Norm) zu vermarkten.

Die gleichzeitige Entstehung beider Arten von Antisystem-Politik (linke und rechte politische Bewegungen) zeigt, dass sie am besten in einer gemeinsamen Zurückweisung wirtschaftlicher Ungerechtigkeit und der Forderung nach einer Reaktion der Politik auf die Bedürfnisse der Bevölkerung begründet sind und nicht in einem irgendwie nicht damit verbundenen Anstieg der Fremdenfeindlichkeit und des sozialen Autoritarismus.

Jonathan Hopkin, der „Comparative Politics“ an der London School of Economics lehrt , nennt die Anti-System-Bewegungen bewusst nicht „populistisch“, weil der Begriff Populismus „unweigerlich eine stark abwertende Konnotation erhält, die eine ernsthafte und systematische Analyse untergräbt“. 

Anti-System-Bewegungen definieren sich jedoch nicht durch ihre Opposition gegen den Liberalismus im weitesten Sinne, sondern durch ihren Widerstand gegen die „neoliberalen Demokratie“: der geschlossenen Version der Demokratie, die die Steuerung des Marktes außerhalb des Zuständigkeitsbereichs der repräsentativen Politik stellt. 

Es ist vor diesem Hintergrund nicht besonders verwunderlich, dass die Verbindung der Wählerschaft mit den etablierten Parteien erheblich beeinträchtigt wurde. Die EMU nämlich bedeutet, jede Aussicht auf eine unabhängige makroökonomische Politik aufzugeben. 

Und das war beispielsweise der Todesstoss für die traditionellen ideologischen Ambitionen der Linksparteien. Die Notwendigkeit fiskal-politischer Zurückhaltung („fiscal austerity“ und „debt brake“) bremste auch die Art der öffentlichen Ausgaben, die solche parteipolitischen Kompromisse ausgleichen könnten.

Hopkin erläutert mit Nachdruck, warum und wie die Exposition gegenüber Ungleichheit und finanzieller Unsicherheit die Antisystem-Politik besser vorhersagt als kulturelle Veränderungen von Migrationsmustern. Der Autor behandelt in gesonderten Abschnitten die Fälle Griechenland, Italien, Spanien und Portugal im Einzelnen ausführlich. 

Wenn die Antisystem-Rechte kulturell konservativ und die Antisystem-Linke kulturell liberal sind, macht es wenig Sinn, dass beide wegen Einwanderungsängsten gegen das System protestieren. Stattdessen ist ihre gemeinsame Ablehnung des Neoliberalismus eine viel überzeugendere Erklärung.

Man beachte dazu den Aufstieg der Antisystem-Linken besonders in den Schuldner-Ländern und der Antisystem-Rechten besonders in den Gläubiger-Ländern.

Dieses Buch bietet alles in allem eine Erklärung der Antisystem-Politik in den reichen Demokratien, die auf grundlegenden Veränderungen der politischen Ökonomie beruht:

Die Marktwirtschaft konnte keine konsistenten und gerecht geteilten Verbesserungen des Lebensstandards mehr erzielen. Die Politik hat obendrauf auch viele der sozialen Schutzmassnahmen zurückgezogen, die die Gesellschaft vor Marktschwankungen geschützt hätten. 

Die etablierten Parteien haben sich laut Autor angesichts der wachsenden Ungleichheit und Instabilität wichtige Bereiche der Politikgestaltung an unparteiische Experten weitergegeben und sich von der Formulierung konkurrierender Visionen der Gesellschaft zurückgezogen.

Ein überwältigendes, tolles Buch, welches die Antisystem-Parteien in Europa so detailliert und mit einer besonders klaren Sprache beschreibt und die Leser mit sachlich begründeten Informationen nährt, dass es als das Beste in dem Bereich bezeichnet werden kann.


Leistungsbilanzdefizite vor der Krise im Vergleich zum Einkommenswachstum nach der Krise, Graph: Jonathan Hopkin: Anti-System Politics – The Crisis of Market Liberalism in Rich Democracies, Oxford University Press, April 2020

Median-Einkommen: jenes Haushaltseinkommen, bei dem die Hälfte der privaten Haushalte ein höheres und die Hälfte ein niedrigeres Einkommen hat.

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