Samstag, 12. August 2017

The Vanishing Middle Class

Buchbesprechung

Peter Temin: The Vanishing Middle Class – Prejudice and Power in a Dual Economy, The MIT Press, Massachusetts, London, 2017.

Während die Ungleichheit innerhalb der Länder in vielen Ländern zugenommen hat, ist die Ungleichheit zwischen den Ländern um die Welt zurückgegangen. Die weltweite Ungleichheit hat sich damit in den letzten Jahrzehnten nicht verändert, obwohl sich die Lage der Ungleichheit ändert.

Es kommt natürlich auf die Politik an: Thomas Piketty hat seinem Buch („Capital in the Twenty-First Century“) u.a. im Länder-Vergleich gezeigt, dass keine der in den USA stattfindenden Ungleichheiten in Frankreich passiert ist.

Das Gegenbeispiel zeigt daher, dass die Auswirkungen des technologischen Wandels und der Globalisierung durch politische Handlungen verändert werden können.

Doch die Reichen wollen nicht, dass die Steuern, die sie zahlen, steigen. Deshalb setzen sie sich tatkräftig dafür ein, dass die Staatsausgaben gekürzt werden.

Und die Ausgabenkürzungen betreffen in erster Linie die Bildung, das Gesundheitswesen und die Infrastruktur und damit v.a. die Menschen mit niedrigem Einkommen.


Die Armen gehen in schlechtere Schulen und haben damit schlechte Karten, irgendwann-irgendwie aufzusteigen. Ausserdem sterben sie angesichts der mangelhaften medizinischen Versorgung früher als die Reichen.

Die Infrastruktur macht zwar per se nicht den grössten Teil des Wirtschaftswachstums aus. Aber sie wirkt wie ein Schmieröl für die Wirtschaft und kurbelt daher das Wirtschaftswachstum an.

Vor diesem Hintergrund erläutert Peter Temin in seinem neuen starken Buch, wie der Mittelstand nach und nach an Boden verloren hat und wie in den USA dazu parallel eine „dual economy“ entstanden ist.

Der an der MIT Wirtschaftswissenschaft lehrende Professor (emeritus) nennt die obere Sicht den „FTE-Sektor“ (*), der 20% der Bevölkerung ausmacht, und stets danach strebt, die Löhne im Niedriglohn-Sektor (das restliche 80%) niedrig zu halten, um dafür zu sorgen, dass reichlich billige Arbeitskräfte für die (eigenen) Unternehmen verfügbar sind. (**)

Die Mittel dazu sind brutal, wie v.a. die politischen und sozialen Entwicklungen während der Amtszeiten von Nixon und Reagan vor Augen führen:

Masseninhaftierungen, Segregation im Wohnungswesen und Wahlentzug.

Das ist, was in den USA seit 40 Jahren geschieht, wie Temin in seinem mit viel Empathie verfassten Buch immer wieder überzeugend betont, zum Teil emotional mitreissend.




Peter Temin: The Vanishing Middle Class, MIT Press 2017


Die Reallöhne wachsen in den USA seit den 1970er Jahren nicht mehr.

Die Ursachen sind historisch geprägt (Sklavenhandel) und beruhen heute noch zum grössten Teil auf rassistischen („racecraft“) Beweggründen (Ressentiments gegenüber Schwarzen und nun in der neueren Zeit gegenüber Latein-Amerikanern).

Der Autor lässt die Gelegenheit nicht aus, Europa davor zu warnen, um angesichts der aus Syrien stammenden Flüchtlinge nicht dieselben Fehler wie die USA zu machen.

Temin erinnert daran, dass die Sozialstaaten des 20. Jahrhunderts auf der Bereitstellung von Bildung, Gesundheitsschutz und Pensionierung beruhten.


Peter Temin: The Vanishing Middle Class, MIT Press 2017


Bei den fünf Ansätzen, die er zur Verbesserung des gesellschaftlichen Wohlergehens unter demokratischen Verhältnissen nahelegt, hebt er in erster Linie das Bildungswesen hervor, um den Menschen aus unteren Schichten die Aufstiegschancen zu erleichtern und die nachteiligen Effekte des sozialen Verfalls, verursacht durch Niedriglöhne und Arbeitslosigkeit, auszugleichen.

Die Entscheidungsträger im politischen Wettbewerb sind aber so dreist, dass sie, resolut unterstützt durch „Geld und Industrie“, nicht einmal davor zurückschrecken, das allgemeine Wahlrecht (Voting Rights Act of 1965) zu entkräften, um die „anderen“ (damit gemeint sind Schwarze und Latinos) an der vollen gesellschaftlichen Teilnahme zu hindern, wie das jüngste Urteil des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten im Fall „Shelby v. Holder“ tragisch veranschaulicht.

Der FTE-Sektor klagt zudem ständig, dass wir uns keine Ausgaben mehr für die Bildung und Infrastruktur leisten können. Der Staat soll sparen, statt die Steuern für die Reichen zu erhöhen.

Die Verelendung von 80% des Volkes wird dabei wohlweislich gebilligt. Damit ist es nicht übertrieben, davon zu reden, dass wir heute in den USA mit einer oligarchischen Staatsführung zu tun haben, so Temin weiter.

Es bedarf keiner näheren Erklärung, dass das im Euroraum (in Form von „der schwarzen Null-Politik“ und dem permanenten Ruf nach fiscal austerity) vorherrschende Spardiktat nichts Gutes erahnen lässt.

Ein beachtliches Buch, imposant; Respekt vor dem Autor.



(*) "FTE-Sector": Das sind diejenigen private Haushalte, die in den Branchen „Finance, Technology and Electronics“ beschäftigt sind.

(**) Weil die Arbeit im Hafen oder in der Fabrik vom Kapital gestützt wurde und mehr Fähigkeiten als die Landwirtschaft erfordert hat.

Darüber hinaus suchten die Kapitalisten ständig mehr Arbeitnehmer, um die Produktion zu erweitern. Die Löhne des kapitalistischen Sektors waren mit dem Einkommen der Landwirte verbunden, weil die Kapitalisten darauf angewiesen waren, die Arbeiter mit einer Prämie über die Löhne in der Landwirtschaft in ihren eigenen Sektor anzulocken, damit die Landwirte und Landarbeiter ihre Familien und Aktivitäten verlassen.





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