Sonntag, 10. Juni 2012

Lettlands makroökonomische Erfahrung


(Nur für Streber)

Es war keine besondere Überraschung, dass ein Mitglied der EZB Lettlands „Erfolgsgeschichte“ hochgejubelt hat, weil es genau dem parteipolitischen Dogma entspricht.

Es ist aber doch überraschend, wenn auch der IWF in die gleiche Kerbe schlägt. Denn der IWF war bislang über die Folgen der Austeritätspolitik und der internal devaluation eher realistischer, schreibt Simon Wren-Lewis in seinem Blog. Was den an der Oxford University lehrenden Wirtschaftsprofessor verwundert, ist, was Dani Rodrik nach seinem Besuch in Lettland berichtet.

Prof. Rodrik geht in seinem Blog auf die Details über die jüngsten Entwicklungen der lettischen Makroökonomie ein und stellt fest, dass das Land trotz eines massiven Einbruchs der Wirtschaftsleistung und eines massiven Anstiegs der Arbeitslosigkeit die Wettbewerbsfähigkeit im vorangegangenen Boom noch immer nicht wiederherstellen konnte.

Aber Rodrik unterstreicht dann, dass die wichtigste Lehre, die er aus der Erfahrung Lettlands ziehe, die Notwendigkeit ist, einfache Verallgemeinerungen, die die Besonderheiten des betreffenden Landes nicht berücksichtigen, zu vermeiden.

Wenn jemand wie Dani Rodrik sich denselben Sachverhalt anschaue und zu ganz anderen Schlussfolgerungen komme, dann bekomme er Angst, ob er vielleicht falsch liege, bemerkt Wren-Lewis. Deswegen knüpft er sich seine eigene makroökonomische Argumentation vorsichtig noch einmal vor.


Lettland, Wirtschaftswachstum und Leistungsbilanz, Graph: Prof. Paul Krugman

War die Tiefe der Rezession also angesichts des vorhergehenden Booms unvermeidlich? Die Wirtschaft war 2007/08 eindeutig überhitzt, legt der Ökonom dar. Deshalb kann es sein, dass die eine oder die andere Rezession wohl unvermeidbar war, wie das Beispiel vieler Länder der Eurozone zeigt. Aber Lettland hat 2008/09 weitweit den stärksten Rückgang der Produktion erlebt.

Das zentrale Problem is aber nicht, ob Lettland die Inflation runter drücken musste, sondern auch die Wettbewerbsfähigkeit wiederherstellt musste. Es geht hier um die Makroökonomie einer kurzen, schweren Rezession mit einem festen, schlecht aussehenden Wechselkurs, erklärt Wren-Lewis.

Wir haben hier eine Volkswirtschaft, welche durch die Überhitzung nicht mehr wettbewerbsfähig wurde. Das Land muss daher die Preise in Euro runterdrücken, sagen wir mal um 20%. Die Regierung hat die Überhitzung überwinden können. Die Produktionslücke ist nun nahe Null Prozent und die Inflation ist auf einem ähnlichen Niveau wie bei den Konkurrenten. Aber die Preise sind immer noch um 20% höher.

Die Option mit geringsten Kosten ist die Abwertung der Währung um 20 Prozent. Es wäre aber töricht, zu glauben, dass es alles wäre, was man tun müsste. Nämlich: die Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit kurbelt die Nachfrage an. Um eine erneute Überwindung zu vermeiden, muss eine Art deflationäre Politik her. Möglicherweise bräuchte man auch eine negative Produktionslücke (output gap), weil höhere Importpreise die Inflation erhöhen. Allerdings bedarf es nicht eines 20%igen Rückgangs der Produktion (output).

Wir nehmen an, dass der feste Wechselkurs gegeben ist. Selbst in diesem Fall macht eine kurze, scharfe Rezession makroökonomisch keinen Sinn. Eine Produktionslücke von 1% würde bei gegebenen Inflationserwartungen die Inflation um 1% reduzieren. Eine kurze, scharfe Schrumpfung der Produktion von 20% unter dem Potenzial würde zu einem Rückgang der Inflation um 20% pro Jahr führen, sodass man die Wettbewerbsfähigkeit rasch wiederherstellen könnte, aber mit einem grossen Aufwand.

Um sich das Ganze besser vorzustellen, muss man sich die Phillips-Kurve heranziehen. Wie in den 1970er Jahren deutlich wurde, hängt die Inflation nicht einfach von der Produktionslücke ab, sondern auch von den Inflationserwartungen.

Die Inflation in diesem Jahr hängt von den Inflationserwartungen im nächsten Jahr ab. Und wenn die Menschen, was die Inflationserwartungen betrifft, ziemlich vernünftig sind, bedeutet eine Produktionslücke von Minus 10% im nächsten Jahr, dass die Inflation im nächsten Jahr Minus 10% beträgt. Wir müssen jedoch in diesem Jahr nicht unbedingt eine Produktionslücke von Minus 10% haben. Die Inflation wird Minus 10% betragen, weil die Inflationserwartungen Minus 10% betragen. Die Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit wird also (gestützt auf die Phillips Kurve nach keynesianischer Lesart) in zwei Jahren erfolgen, aber zur Hälfte auf Kosten von entgagengener Produktion. Also mit sehr hohen Kosten aus Sicht der Wirtschaft.

Die Phillips Kurve besagt, dass die schrittweise Reduzierung des Preisniveaus im Lauf der Zeit effizienter ist als wenn man es schnell handhaben würde. Daher gilt, dass, auch wenn man daran glaubt, an einem festen Wechselkurs festzuhalten, eine kurze, schwere Rezession deutlich weniger effizient ist, als eine zwar mässige, aber anhaltende Rezession.

Deswegen ist Wren-Lewis damit nicht einverstanden, Lettlands Erfahrung als „Erfolgsgeschichte“ zu betrachten. Die Korrektur der Wettbewerbsfähigkeit lastet auf der Wirtschaft: in Form von einer grossen Menge Verschwendung an Ressourcen und das Elend der Arbeitslosigkeit.

Fazit: Die entscheidende Frage ist, ob Lettland in Sachen internal devaluation wirklich eine Erfolgsgeschichte bietet. Die kurze Antwort lautet: nein. Wie Paul Krugman festhält, zeigt die lettische Erfahrung, dass die Austerians einen Helden brauchen, um Austeritätspolitik im Angesicht einer schweren Depression zu rechtfertigen, zumal Irland hierbei kein gutes Beispiel liefert.

Die lettische Erfahrung ist ähnlich wie die der Peripherie der Euro-Zone im Allgemeinen, erklärt Krugman. Es gab eine Zeit lang starke Kapitalzuströme und entsprechende Handelsbilanzdefizite. Dann kam es zu einem abrupten Ende.

Lettland hat dann das riesige Leistungsbilanzdefizit in einen Überschuss umgewandelt. Der Preis dafür war jedoch eine gigantische wirtschaftliche Kontraktion, welche, wie man erwarten würde, Einfuhren einschränken und die Handelsbilanz verbessern müsste.

Der Streudiagramm zeigt aber laut Krugman, mit R im Quatrat gleich 0,67, dass es kein offensichtliches Zeichen dafür gibt, dass Lettlands Zahlungsbilanz mehr als eine grosse Verbesserung in der Handelsbilanz vorzeigt, dank einer enormen wirtschaftlichen Kontraktion, wobei das Defizit wieder zunimmt, während die Wirtschaft sich erholt.

Wie sieht es mit der „internen Abwertung“ aus? Hat Lettland zeigen können, dass es möglich ist, die Löhne, die nach unten starr sind, anzupassen, sodass man keine Anpassung über den Wechselkurs braucht? Nein. 


Die Quintessenz ist, dass, während Lettlands Bereitschaft, extreme Austerität zu ertragen politisch beeindruckend ist, die wirtschaftlichen Daten aber die Behauptung in Bezug auf die Wirtschaft nicht unterstützen, wie Krugman zusammenfasst.

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