Martin Wolf befasst sich in einem lesenswerten Essay („Why plans for early fiscal tightening carry global risks“) in FT mit dem „Schrei der alten Wirtschaftsreligion“: „Bereue, bevor es spät ist. Der Lohn der Fiskalsünde ist Tod“. Ist es aber schon Zeit, die Ausgaben zu kürzen? Wolf bezweifelt es. Es gilt zumindest, die Risiken zu erkennen, bemerkt er: Wird die Einschränkung verzögert, birgt es die Gefahr der Inflation. Wird vorzeitig eingeschränkt, drohen Rezession und sogar Deflation, erklärt Wolf. Nachdem die grösste Finanzkrise der Geschichte knapp überlebt wurde, müssen wir erkennen, dass die Abwärtsrisiken ernst sind, hält er fest. Vernüftige Leute glauben, dass eine Verzögerung der Straffung der Finanzpolitik jetzt die grösste Gefahr darstellt, schreibt Wolf weiter. Aus vier Gründen:
(1) Sie fürchten, dass die Finanzmärkte nach Griechenland, Portugal und Spanien in Kürze auch Grossbritannien und die USA auf den Kopf stellen werden, (2) Sie glauben, dass die Defizite zu einem „crowding out“ der Privatinvestitionen führen werden, (3) Sie argumentieren, dass hohe Defizite zu Inflation führen, und (4) Sie denken, dass Haushaltsdefizite fehlleiten, die Nachfrage zu stützen.
Nach Wolfs Einschätzung herrscht derzeit eine „Epidemie der Sparsamkeit in der Privatwirtschaft“ vor. Er verweist in diesem Zusammenhang auf eine aktuelle Prognose von IWF, wonach jedes grosse Land mit hohem Einkommen einen riesigen Überschuss von Einkommen über die Ausgaben aufweist. Das heisst, dass die privaten Haushalte in den hochentwickelten Industrieländern seit geraumer Zeit massiv sparen: Hier sind die Quoten: Japan 12,6%, Grossbritannien 9,7%, die USA 7,7% und die Eurozone 6,8% des BIP. Im Durchschnitt der ganzen Gruppe dürfte der Überschuss des Einkommens (über die Ausgaben) 7,8% der gesamten Wirtschaftsleistung betragen. Doch solche Sparsamkeit zieht aber entweder Leistungsbilanzüberschüsse oder Haushaltsdefizite nach sich, erklärt Wolf. Von diesen Ländern haben nur Deutschland und Japan Leistunsbilanzüberschuss. Der Rest sind Kapital-Importeure. Und sie werden weiter ordnungsgemäss Haushaltsdefizite ausführen, die grösser sind als ihre privaten Überschüsse, so Wolf. Was kam zuerst? Private Einschränkung oder Haushaltsdefizit? Die Antwort ist die erste. Siehe die USA: Der gewaltige Umschwung bei privaten Haushalten fiel mit der Finanzkrise zusammen, zwischen dem IV. Q. 2007 und dem II. Q. 2009, von einem Defizit von 2,2% des BIP ging es auf einen Überschus von 6,6% des BIP über. Die Tatsache, dass die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und die langfristigen Zinssätze gleichzeitig fallen, zeigt, dass der Zusammenbruch der privaten Konsumausgaben für das Haushaltsdefizit „crowding in“ verursacht hat, nicht „crowding out“, argumentiert Wolf. „Wildes privates Verhalten hatte wildes Verhalten der Öffentlichkeit zur Folge, formuliert der Chief Economics Commentator von Financial Times.
Solange die Wirtschaftsleistung depressiv bleibt, ist es höchst unwahrscheinlich, dass die fiskalpolitische Stützung der Wirtschaft inflationär wirkt. Die Frage sei, ob das Defizit finanziert werden kann: Wolfs Antwort ist „ja“. Solange der private Sektor einen Überschuss aufweist, hat er Forderungen gegenüber dem Staat, es sei denn, die ganze entwickelte Welt geht dazu über, einen enormen externen Überschuss aufzuweisen. Das blinde Befolgen von fiskalpolitischen Regeln ist, während man ignoriert, was sich im privaten Sektor oder im Saldo der Handelsbilanzen abspielt, ein Rezept für Enttäuschungen und politischen Konflikt, schlussfolgert er.
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