Buchbesprechung:
Barry Eichengreen: Hall of Mirrors: The Great
Depression, The Great Recession, and the Uses – and Misuses – of History, Oxford University Press, London, New
York, 2015.
Queen Elizabeth II, die englische Königin hat im
November 2008 an der London School of
Economics (LSE) aufgrund der dramatischen Ereignisse an den Finanzmärkten gefragt,
warum niemand die Krise hat kommen sehen.
Die Frage ist mehr als berechtigt und vernünftig, da die
Great Recession (2008-2009) und die Great Depression (1929-1933) im
Zusammenhang stehen und die zwei grössten Finanzkriesen unseres Zeitalters
darstellen.
Die unübersehbaren Parallelen (Kredit-Booms,
zweifelhafte Banking-Praktiken und ein fragiles globales Finanzsystem usw.) zwischen
diesen Abschnitten sind zudem im Kreis von Menschen mit Verantwortung für die
Wirtschaftspolitik gut bekannt. Der praktische Ansatz, die Krise aus der
Perspektive der 1930er Jahre zu betrachten, wurde beispielsweise am Anfang von Ben Bernanke, dem Fed-Präsidenten und Christina Romer, der Wirtschaftsberaterin
des Präsidenten Obama augenfällig vorgestellt.
Dass die Erfahrung aus der Great Depression die
Wahrnehmung und die Reaktion auf die Great Recession geprägt hat, ist
weitverbreitet. Aber zu verstehen, wie die Geschichte daraus gebraucht und
missbraucht wurde, erfordert einen genauen Blick nicht nur auf die Depression,
sondern auf die Entwicklungen seither, bemerkt Barry Eichengreen im Vorwort seines neuen, grossartigen Buches.
Der an der University
of California, Berkeley lehrende Wirtschaftsprofessor geht daher vorerst auf
die 1920er Jahre zurück und erläutert, wie Regierungen und Märkte auf solche
Finanzkrisen im Allgemeinen reagieren, und zwar unabhängig davon, ob die
Amtsleute dabei wie Herbert Hoover Englisch oder wie Heinrich Brüning Deutsch sprechen.
Wenn das Versagen der Amtsleute, die Zinsen zu senken
und die Finanzmärkte mit Liquidität zu überfluten, damals zu Deflation und
Depression geführt hat, müssten die Entscheidungsträger heute darauf mit einer
lockeren Geldpolitik und finanzpolitischen Massnahmen reagieren. Wenn die
Bemühungen der Amtsleute um Haushaltskonsolidierung die Rezession damals
verschärft hat, müssten die Entscheidungsträger heute Fiscal Stimulus
einsetzen. Doch die Fed war jetzt zurückhaltend, mehr zu tun. Und die EZB war
darauf bedacht, weniger zu tun.
Eichengreen benennt in diesem Kontext einige der
fehlgeleiteten Massnahmen, ohne mit der Wimper zu zucken. Er betont erstens,
dass „das 90%-Kriterium“ ("the 90 percent rule“) nicht greift, weil das schwache Wachstum die Verschuldung erhöht, nicht
umgekehrt.
Und zweitens unterstreicht er, dass es nicht
glaubwürdig ist, von der Austeritätspolitik expansive Wirkungen zu erwarten,
v.a. wenn (a) die Nominalzinsen nahe null liegen, (b) die Mitgliedstaaten in der Eurozone nicht über eigene Währung
verfügen, die abgewertet werden kann, um die fehlende Nachfrage durch Exporte
zu ersetzen und (c) alle fortgeschrittenen Volkswirtschaften schwer
angeschlagen sind und kein Land seine Exporte steigern kann.
Auch wenn es den Behörden heute gelungen ist, eine
Vertiefung der Notlage an den Finanzmärkten zu verhindern, reicht es nicht aus,
eine schwerwiegende Rezession in der gesamten Wirtschaft zu unterbinden. Es
genügt nicht, die Wirtschaft anzukurbeln, wenn aufgrund der anhaltenden
Risikoaversion eine Zurückhaltung in Sachen Kreditaufnahme und Kreditvergabe
vorherrscht. In solchen Umständen ist es notwendig, die Ausgaben der
öffentlichen Hand zu erhöhen, um die fehlende Nachfrage durch den Privatsektor
auszugleichen, erklärt Eichengreen.
Eichengreen behauptet nicht, dass die
Entscheidungsträger in den USA und Europa heute aus der Geschichte nichts
gelernt hätten. Worauf der Ökonom Wert legt, ist, hervorzuheben, warum sie auf
den dramatischten Zusammenbruch der Wirtschaft seit Generationen mit
halbherzigen Massnahmen und halbfertigen Eingriffen reagiert haben: Es ist die
Dominanz der monetaristischen Schule.
Es geht nicht einmal darum, zu prüfen, ob die
Vorherrschaft der monetaristischen Ideen von einem empirischen Nachweis
getragen wird oder nicht. Es ist eine Tatsache, dass die Wissenschaft der
Ökonomie nur allzu oft von der Politik vereinnahmt, ja völlig verzerrt wird, wie Brad DeLong in einem aktuellen Artikel schildert.
Die politischen Entscheidungsträger waren nach
2008/2009 nicht bereit, über die von der monetaristischen Schule vertretenen
Ideen hinauszugehen und sich z.B. an wirtschaftspolitische Konzeption à la
Keynes und/oder Minsky zu wenden, um die Probleme, die die Great Recession
hervorgebracht hat, anzupacken.
Die unzureichende Antwort auf die Probleme von heute
geht also laut Eichengreen auf die monetaristisch geprägten Ideen, die in der
Gegenwart als neoliberal bekannt sind, zurück. Das Buch ist bis heute mit
Abstand die beste, glaubwürdige Erklärung für das Versagen der politischen
Entscheidungsträger, die gegenwärtigen Probleme anzugehen. Und es beschreibt zugleich, wie die
Unfähigkeit der Politik, dem Leiden von Millionen von arbeitlosen Menschen endlich
ein Ende zu setzen, eine Gegenreaktion gegen den Staat und die Zentralbanken
auslöst.
Eichengreens mit viel Fingerspitzengefühl
geschriebenes, hoch intellektuelles Buch legt ohne Polemik dar, dass nicht nur
der Erfahrung, sondern auch der Einsicht der historischen Ereignisse der
wirtschaftspolitischen Natur bedarf, um zum Schluss zu kommen, dass die Lösung
der gegenwärtigen Probleme mehr, nicht weniger Staat erfordert. Und während Massenarbeitslosigkeit
immer mehr Humankapital zerstört und das soziale Gefüge in Europa gefährdet,
vergeht die Zeit.
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