Es ist 09.30
Uhr an einem eiskalten Morgen in Helsinki. Hunderte von Menschen stehen
Schlange vor einem unscheinbaren Gebäude im Norden der Stadt. Eine alte Frau ganz
vorne sagt, dass sie seit zwei-und-ein-halb-Stunden wartet.
Die 2‘600
Menschen, die irgendwann hinein latschen werden, warten nicht auf die neuesten
Nokia oder Apple Mobile Phones, sondern auf etwas Elementares: Eier, Brot,
Milch, Bananen, Fruchtsäfte und andere Grundnahrungsmittel.
Die
Warteschlange ist länger und länger, sagt einer der Arbeiter im Helsinginkatu
Food Bank: „Wir haben viele reiche Leute hier in Finnland, aber das ist die
andere Seite“.
Der Manager
des Zentrums erzählt, dass die Zahl der Menschen, die die Anlage besuchen, sich
seit 2012 verdoppelt hat. Die Menschen haben einfach nicht genug zum Leben,
weil viele von ihnen keinen Job haben.
Das schildert FT, die britische Wirtschaftszeitung aus London in einem
lesenswerten Bericht („Finland’s economy:
In search of the sunny side”). Der Artikel bietet u.a. die folgende
bemerkenswerte Abbildung.
Die Notlage
ist zum Teil auf die Austeritätspolitik der EU zurückzuführen, hiess es im
Bericht weiter. Das Land befindet sich in einer Depression. Im Mittelpunkt
steht ein Wettbewerbsproblem: Die Lohnkosten sind höher als in jedem anderen
europäischen Land. Finnland hat nach Japan die am schnellsten alternden
Bevökerung der Welt.
Finnlands Lohnstückkosten
im Vergleich, Graph: FT
Wettbewerbsfähigkeit
ist ein relatives Konzept. Die Ausgaben des einen sind die Einnahmen des
anderen. Der Effekt ist umso grösser, je enger die Länder in einer
Währungsunion Handel miteinander treiben. Schade, dass in der Abbildung Deutschlands
Lohnstückkosten fehlen. Sonst sieht man, wie Deutschland durch Lohn-Moderation die
anderen an die Wand gedrückt hat:
Lohnstückkosten
Frankreich versus Deutschland, Graph: Prof. Heiner Flassbeck in: Flassbeck Economics
Seit 2008
sind die Lohnstückkosten in Finnland um 20% gestiegen, genau gleich wie die von
Frankreich. Aber sie sind 20% höher als in Deutschland, und rund 15% mehr als
in Schweden. Es ist eine enorme Herausforderung, die Wettbewerbsfähigkeit vor
diesem Hintergrund um 10 oder 15% zu erhöhen, zumal das Land nicht die eigene
Währung hat, und deshalb nicht abwerten kann.
Die internal devaluation (Anpassung
von Kosten und Preisen durch Lohnsenkung) bedeutet andererseits Deflation. Es
bedarf Fiscal Stimulus. Aber das neoliberale Wirtschaftspolitik der EU
verbietet es. Finnland hat eine relative niedrige Staatsverschuldung
(debt-to-GDP) von 60%, d.h. es gibt genügend fiskalischen Spielraum. Auch das
Haushaltsdefizit bleibt mit 3,4% (2014) in geordneten Rahmen.
Das reale
BIP ist seit dem Höchststand im Jahr 1989 bis zur Talsohle der Rezession im Jahr
1993 um 13% gesunken. Heute liegt es rund 5% unter dem Niveau von 2008. Die
Wirtschaft ist 2004 um 0,1% geschrumpft.
Finnlands Wirtschaftswachstum,
Graph: Statistic Finland
Warum ist
die Entwicklung der Lohnstückkosten in einer Währungsunion entscheidend? Weil die
nationale Geldpolitik an die EZB übertragen wird und die Länder in der
Währungsunion stattdessen ein gemeinsam festgelegtes Inflationsziel anstreben.
Es geht im Grunde genommen um den Zusammenhang
zwischen Löhnen (Zuwachs von Lohnstückkosten) und Preisen (Inflationsrate). Die
Löhne müssen sich in einer Währungsunion an der nationalen
Produktivitätsentwicklung plus dem gemeinsam festgelegten Inflationsziel
orientieren, wie Heiner Flassbeck in seinem Blog ausführlich erläutert.
Fest verankerte Inflationserwartungen verlangen genau
diese Anpassungsregel. Lohnstückkosten müssen dem Inflationsziel folgen. Sonst
macht das Konzept der Verankerung von Inflationserwartungen, die die Notenbank
fordern, keinen Sinn.
Fazit: Die von Brüssel und Berlin tatkräftig verordnete Austerität hat nicht nur in Griechenland einen Abwärtsstrudel mit verheerenden sozialen und ökonomischen Folgen ausgelöst.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen