Die amerikanischen Konservativen haben in den vergangenen Tagen angefangen, mitzuteilen, dass die wachsende Ungleichheit in den USA auf Sittenverfall zurückzuführen ist.
Es geht aber in erster Linie ums Geld, schreibt Paul Krugman in seiner lesenswerten Freitagskolumne („Money and Morals“) in NYT.
Der Träger des Wirtschaftsnobelpreises (2008) deutet in diesem Zusammenhang auf das neue Buch von Charles Murray („Coming Apart: The State of White America, 1960-2010“) hin. Das Buch, welches im Mittelpunkt des aktuellen konservativen Angriffs steht, markiert zwar einige auffallende Trends, aber die erste Frage, die zu stellen ist, ob die Dinge in Sachen Wertorientierung wirklich so schlimm sind, hebt Krugman hervor.
Murray und andere Konservative scheinen oft, anzunehmen, dass der Niedergang der traditionellen Familie schreckliche Folgen auf die Gesellschaft als Ganzes hat. Das ist natürlich eine seit langer Zeit bestehende Position. Gertrude Himmelfarb behauptet in ihrem Buch von 1996 („The De-Moralization of Society: Form Victorian Virtues to Modern Values“), dass unsere Gesellschaft zusammenbricht und weiter zusammenbrechen werde, weil die viktorianischen Tugenden weiter erodieren.
Doch die Wahrheit ist, dass einige Indikatoren der sozialen Dysfunktion sich dramatisch verbessert haben, auch wenn traditionelle Familien weiter an Boden verlieren, erklärt Krugman. Murray erwähnt beispielsweise nicht, dass die Schwangerschaften unter allen ethnischen Gruppen seit 1990 zurückfallen oder die Gewaltkriminalität seit Mitte der 1990er Jahren um 60% zurückgegangen ist. Könnte es sein, dass traditionelle Familien für den sozialen Zusammenhalt nicht entscheidend sind wie angepriesen wird?
Teenagerschwangerschaft (USA), Graph: childtrendsdatabank via Prof. Paul Krugman
Es ist klar, dass mit der traditionellen Arbeiterfamilie etwas geschieht. Die Frage ist, was. Und es ist erstaunlich, wie schnell und munter die Konservativen die scheinbar offensichtliche Antwort zurückweisen: eine drastische Verringerung der Arbeitsmöglichkeiten für die weniger gut ausgebildeten Männer, erläutert Krugman.
Für Arbeitnehmer mit niedrigerer Bildung sind die Einstiegslöhne seit 1973 um 23% gesunken. Inzwischen sind auch die Leistungen für Arbeitsverhältnisse gefallen. Das heisst, dass Amerika laut Krugman zu einer Gesellschaft geworden ist, in der weniger gebildete Menschen grosse Schwierigkeiten haben, anständige Löhne und gute Sozialleistungen zu finden.
„Doch irgendwie sollen wir überrascht sein, dass es für solche Menschen weniger wahrscheinlich geworden ist, am Arbeitsleben teilzunehmen oder zu heiraten und dass wir daraus einen mysteriösen moralischen Verfall schliessen sollen, die von hochnäsigen Liberalen (Liberal im amerikanischen Sinne, meine Anmerkung) verursacht wurde. Und Murray erzählt uns, dass die Eheschliessungen der Arbeiterklasse weniger glücklich geworden sind. Schwer zu sagen, dass Geldprobleme dies tun“, legt Krugman dar.
Gewaltdelikte (USA), Graph: Prof. Paul Krugman
Der eigentliche Gewinner in dieser Kontroverse ist der renommierte Soziologe William Julius Wilson, fügt Krugman einen weiteren Gedanken hinzu.
Wilson hat im Jahr 1996 argumentiert, dass ein Grossteil der sozialen Unruhen unter Afro-Amerikanern im allgemeinen verfallenden Werten zugeschrieben wurde, aber tatsächlich durch einen Mangel an Jobs für Arbeitnehmer (blue-collar jobs) in städtischen Gebieten verursacht war. Er hatte Recht, betont Krugman. Man würde etwas Ähnliches erwarten, wenn es mit einer anderen sozialen Gruppe, z.B. mit der weissen Arbeiterklasse, geschehen würde, welche einen vergleichbaren Verlust an wirtschaftlichen Möglichkeiten hätte. Und so ist es.
Fazit: Die Versuche, die dazu dienen, die Debatte von steigender Ungleichheit in Richtung angeblich moralischer Verfehlungen dieser Amerikaner abzulenken, sind abzulehnen.
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