Montag, 10. Oktober 2016

Niedrigzinsen, Finanzmarktstabilität und Wachstumsaussichten

Selbst die deutsche Bundesbank hat gemahnt: Die Niedrigzinsen bedrohen die Finanzstabilität.

EZB-Präsident Mario Draghi hat zwar die Niedrigzinsen mehrmals verteidigt: weil Nichtstun grösstes Risiko wäre. Aber die Verfechter der Austeritätspolitik werden nicht müde, zu klagen, dass die Niedrigzinsen Bubbles (auf den Aktien- und Bond-Märkten) auslösen, eine übermässige Risikobereitschaft fördern und damit die Finanzmarktstabilität gefährden können.

Es liegt nahe, zu sagen, dass das geschilderte Szenario nicht völlig ausgeschlossen ist. Denn in den Finanzmärkten ist beinahe nichts unmöglich.

Der deutlichste Grund ist allerdings die historische Erfahrung. Die japanischen Zinsen beispielsweise liegen seit zwei Jahrzehnten nahe Null oder auf Null. Es gab trotzdem keine Anzeichen einer Katastrophe auf den Finanzmärkten, schreibt Noah Smith in seiner Kolumne („Low rates are here to stay“) bei Bloomberg View.

Die Risikobereitschaft blieb bisher gering und es gab keine grossen Blasen. Das heisst, dass Japans Fall deutlich zeigt, dass Niedrigzinsen nicht unbedingt zu einer Instabilität auf den Finanzmärkten führen müssen, so der ehemalige Assistant Professor der Finanzwissenschaft an der Stony Brook University.



Der Verlauf des Realzinses unter verschiedenen Szenarien, Graph: E. Gagnon, B.K. Johannsen and D. Lopez-Salido in: „Understanding the New Normal: The role of demographics“, Fed Washington, Oct 3, 2016.


Was mag aber der Grund sein, dass die Zinsen auf unbestimmte Zeit um die Null-Grenze schwanken, ohne Investoren zum schlechten Verhalten zu bewegen?

Die Antwort: Es kommt darauf an, warum die Zinsen ursprünglich so niedrig sind. Wenn das Geld günstig ist, weil die Zentralbanken gestützt auf ihre Macht die Zinsen niedrig halten, dann liegt es nahe, anzunehmen, dass die Investoren das billige Geld aufnehmen und in riskantere Dinge investieren als sie es sonst tun würden. Wenn die Zinsen aber wegen der natürlichen Kräfte der Wirtschaft niedrig sind, und die Zentralbanken damit wenig zu tun haben, dann gibt es keinen Grund, zu erwarten, dass die Investoren ihre Risikobereitschaft erhöhen.

Die Zinsen sind ein Preis; der Preis des Geldes in Zukunft, mit Bezug auf das heutige Geld. Auf kurze Sicht können die Zentralbanken diesen Preis beeinflussen, indem sie Wertpapiere kaufen und verkaufen. Wenn sie den Preis verzerren, können wir damit rechnen, dass die Verzerrungen sich an anderer Stelle zeigen, als Anstieg der Inflation und beispielsweise in Form von Spekulationsblasen, wie Smith erläutert.

Aber der Preis kann auch von einer Reihe von langfristigen Faktoren beeinträchtigt werden. Zum Beispiel, wenn die Menschen oder Unternehmen „geduldiger werden“ und die Zukunft im Vergleich zur Vergangenheit relativ betrachten. Dann ist zu erwarten, dass die Zinsen fallen, da die Menschen weniger Anreiz hätten, um Geld zu sparen.

Der wohl wichtigste langfristige Bestimmungsfaktor des Zinses ist aber das Tempo des Wirtschaftswachstums. Die Zinszahlungen sind ein Anspruch auf die künftige Produktionsleistung (economic output). Wächst der Output rasch, verlaufen die Zinsen tendenziell hoch. Es gibt aber verschiedene Kräfte in der modernen Welt, die das Wachstum nach unten drücken können. Niedrigere Wachstumsraten bedeuten niedrigere Zinsen, auch ohne Zutun der Zentralbanken.

Zu den Faktoren, die das Wachstum zurückhalten, zählt z.B. ein langsameres Produktivitätswachstum. Aber auch demographische Gründe wie eine alternde Bevölkerung gehören dazu. Eine vielleicht wichtigste Determinante ist allerdings der Lohn, worüber die Mehrzahl der etablierten Ökonomen heute leider nicht viel redet, was von Smith leider nicht erwähnt wird.

Denn das Wachstum wird i.d.R. vom privaten Konsum und den Investitionen von Unternehmen getragen. Weniger Lohn und/oder sich verschlechternde Einkommensaussichten bedeuten daher weniger Nachfrage durch die Verbraucher und damit weniger Konsum. Wenn die Unternehmen deswegen nicht investieren, und die öffentliche Hand aus ideologischen Gründen zu einer Gürtel-enger-schnallen-Politik (fiscal austerity) verdammt wird, dann ist die Botschaft klar: Die Zinsen dürften noch eine lange Zeit auf dem niedrigen Niveau verharren. Und die Niedrigzinsen stellen daher wahrscheinlich keine drohende Gefahr für die Finanzmarktstabilität dar.

Wenn die Löhne nicht entsprechend der Produktivität plus der Zielinflationsrate der EZB steigen, gibt es wenig Anlass, demnächst eine nachhaltige Erholung der Wirtschaft kommen zu sehen.

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