Eine Tatsache, die seit dem Ausbruch der globalen Finanzkrise von 2008 (Great Recession) gefliessentlich übersehen wird, ist, dass es die automatischen Stabilisatoren waren, die einen stärkeren Rückgang der Produktion (output) und das BIP in den fortentwickelten Volkswirtschaften verhindert hatten.
Die politischen Entscheidungsträger haben sich aber mit dem darauffolgenden Anstieg des Haushaltsdefizites sofort an die alte Glaubenslehre von ausgeglichenem Etat (balanced budget) d.h. der Haushaltskonsolidierung (fiscal consolidation) oder wie es in Europa vorgekommen ist, der Austerität (fiscal austerity) oder auch genannt Schuldenbremse („debt brake“) gewandt, ohne auf erste Anzeichen der konjunkturellen Erholung zu warten.
Es gibt heute keinen Zweifel daran, dass diese Strategie kläglich gescheitert ist. Die Eurozone hat acht Jahre danach nicht einmal das Produktionsniveau von 2008 erreichen können. Die Frage ist, welche Rolle der Haushaltsplan in einer modernen Volkswirtschaft spielt?
Das ist auch das Thema, das Stephanie Kelton im kürzlich erschienenen lesenswerten Buch „Rethinking Capitalism“, aufgreift und gestützt auf den „sectoral financial balances“-Ansatz, d.h. die Finanzierungssalden der Sektoren (private Haushalte, Unternehmen und Staat) analytisch erläutert.
Die unmittelbare Erkenntnis ist, die Wirtschaft als Gesamtes zu betrachten: Einkommen = Ausgaben. Und das ist nichts anderes als eine buchhalterische Gleichung.
Wenn wir uns die einzelnen Sektoren ansehen, private Haushalte, Unternehmen, öffentliche Hand und das Ausland, dann muss sich das Defizit im Finanzierungssaldo des einen Sektors durch den Überschuss im Finanzierungssaldo des anderen Sektors ausgleichen lassen, sodass auf gesamtwirtschaftlicher Ebene Einkommen = Ausgaben ist.
Mariana Mazzucato and Michael Jacobs: Rethinking Capitalism, Graph: Wiley Blackwell
M.a.W., damit der eine Sektor weniger ausgibt als sein Einkommen, muss der andere Sektor (oder die anderen Sektoren) mehr ausgeben als sein Einkommen. Das Ergebnis: Die Forderungen des ersten Sektors steigen gegenüber dem zweiten Sektor.
Nun ist in Erinnerung zu rufen, dass der private Sektor zum Zeitpunkt des Ausbruchs der Krise Haufen Schulden aufgetürmt hatte, definiert als Einkommen – Ausgaben (d.h. S-I).
Was danach erfolgte, passt genau in die von Hyman Minsky vorgestellte Konzeption von „financial instability hypothesis“. Nach dem Platzen der Housing-Bubble ist der private Sektor dazu übergegangen, Schulden abzubauen (deleveraging), d.h. Ersparnisse erhöht, um die Schulden zu bedienen. Der energische Drang, zum Überschuss zu wechseln, war nicht unerkennbar.
Nun funktionieren die Ausgaben-Multiplikatoren, wie Keynes erklärt, auch in umgekehrter Reihenfolge. Eine Verringerung der gesamten Ausgaben entfaltet tendenziell eine verstärkte Auswirkung auf das BIP. Die Reduktion der Ausgaben reduziert das Einkommen, welches zu einem weiteren Rückgang der Ausgaben führt usw.
Wenn der Wunsch, die Ausgaben zu kürzen, stark genug ist, wie es im Grunde genommen nach dem Platzen der Blase am Immobilienmarkt geschehen ist, können daraus verwüstende Folgen für die gesamte Wirtschaft entstehen. Da die automatischen Stabilisatoren („Big Government“) aktiv wurden, kam es nicht so weit. Deshalb heisst ja die Krise im Vergleich zu „Great Depression“ einfach „Great Recession“.
Die automatischen Stabilisatoren sind i.d.R. so gestaltet, dass sie ohne die Segnung des Parlaments zum Zug kommen. Das heisst in der Praxis, dass, während Millionen von Menschen ihre Arbeit verlieren, die öffentliche Hand einem Rückgang der Steuereinnahmen und einem Anstieg der Ausgaben gegenübersieht. Die Folge ist eine endogene (non-discretionary) Zuspitzung des Haushaltsdefizits (d.h. G-T).
Was hier nicht vergessen werden darf, ist, dass die Verbindlichkeiten (liabilities) des öffentlichen Sektors das Vermögen (assets) des privaten Sektors sind. Das ist die innere Logik doppelten Buchhaltung. Wenn man debits und credits zurückverfolgt, kommt man automatisch zu diesem Schluss. Es gibt also so was wie crowding-out nicht, d.h. die privaten Investitionen werden nicht durch die staatlichen Ausgaben verdrängt.
Wenn der private Sektor plötzlich einen hohen Überschuss erzielen will, um z.B. Schulden abzubauen, dann muss der öffentliche Sektor in der Lage sein, diesen Wandel im Privatsektor aufzunehmen, durch Defizit. Wenn der öffentliche Sektor nicht genug Defizit einfahren will, dann muss eine andere Variable für die Anpassung sorgen. Das ist die Produktion (output), die schrumpft. In Abwesenheit eines hohen Haushaltsdefizits muss also das BIP viel mehr zurückfallen.
Im Übrigen: Massnahmen auf der Angebotsseite gehen i.d.R. mit einer wachsenden Ungleichheit und einer grösseren Finanzinstabilität einher. Das sich ausdehnende Haushaltsdefizit ist also nicht die Ursache, sondern die Folge der Nachfrageschwäche in der Volkswirtschaft.
Fazit: Es ist nicht ratsam, ein bestimmtes Haushaltsergebnis anzustreben (wie z.B. „Schwarze Null“), um einer wirtschaftspolitischen Zielsetzung wie z.B. Vollbeschäftigung, Rechnung zu tragen. Der Haushaltsplan ist nicht ein Selbstzweck, sondern ein Mittel, auf gesellschaftliche Zielsetzungen hinzuarbeiten, um z.B. den Lebensstandard der Menschen zu verbessern, eine gerechtere Einkommensverteilung zu fördern. Ohne einen ehrgeizigen Haushalt lassen sich sonst keine angemessenen öffentlichen Investitionen in Bildung, Technologie und Infrastruktur realisieren, die für die langfristige Prosperität wesentlich sind, wie Kelton festhält.
Exkurs:
S: Ersparnisse
I: Investitionen
Jeder Sektor hat Einkommen und Ausgaben;
Wenn Ausgaben < Einkommen, dann fällt eine Ersparnis (Überschuss) an.
G: Staatsausgaben
T: Steuereinnahmen
1 Kommentar:
Was Stephanie Kelton in dem Buch Rethinking Capitalism beschreibt gibt es hier in deutscher Kurzfassung auf sechs Seiten: https://zinsfehler.com/2016/12/01/das-kollektive-versagen/ mit Links zu zwei Vorträgen und einem Paper von ihr vom November 2014 und April 2016.
LG Michael Stöcker
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