Donnerstag, 3. Juni 2010

Washington und Arbeitslosigkeit

Warum kümmert sich Washington um die Arbeitslosigkeit nicht? „Im Jahr 1983 hatte Ronald Reagan’s Regierung die hohe Arbeitslosigkeit als einen nationalen Notstand betrachtet“, schreibt Brad DeLong in einem lesenswerten Essay in The Week. „Heute, wo die Arbeitslosigkeit auf 10% verläuft, scheint Barack Obama’s Washington davon ungerührt. Warum?“, wundert sich Wirtschaftsprofessor an der University of California at Berkeley. „Das letzte Mal hatten wir ein Überangebot an Arbeitskräften in dieser Grössenordnung im Jahr 1983“, bemerkt er. „Damals war die Überschussnachfrage nach hochwertigen Finanzanlagen von Paul Volcker und der Fed bewusst erzeugt. Um die Inflationserwartungen auszuwringen, wurde das Geldangebot reduziert“, erklärt DeLong. „Volcker hat es aber in der Tat übertrieben. Zu Beginn des Jahres 1983 wurden Gewerkschaften die zuvor versprochenen Lohnerhöhungen zurückgegeben und Lohnkürzungen für Arbeitgeber angeboten, die bereit waren, neue Stellen zu öffnen. Die Arbeitslosigkeit kletterte auf 10,5%. Der mexikanische Staat war bankrott. Und die Fed hat den Kurs gewechselt, weil sie einsah, dass ihre Geldpolitik über das Ziel hinausschoss“, legt DeLong dar.


Civilian Unemployment Rate, Graph: Fed St. Louis

„Washington war in Panik. Die hohe Arbeitslosigkeit wurde als einen echten nationalen Notstand wahrgenommen. Die Fed startete eine massiv lockere Geldpolitik. Die Reagan Regierung versprach, dass das Defizit, das durch Steuersenkungen von 1981 und durch die Erhöhung von Verteidigungsausgaben verursacht worden war, das Rezept sei, für Amerikaner wieder eine Arbeit zu beschaffen“, so DeLong. „Jeder hatte einen Plan zum Abbau von Arbeitslosigkeit. Jeder Lobbyist oder Spekulant gestaltete sein Lieblingsprojekt als eine magische Kugel zur Verringerung der Arbeitslosigkeit um“, ruft DeLong in Erinnerung. „Heute berührt die Arbeitslosigkeit die 10% Marke. Die Finanzmärkte senden ein Signal, dass die Überschussnachfrage nach hochwertigen Finanzanlagen wieder wächst. Aber anders als 1983 empfindet Washington keine Dringlichkeit“. DeLong kann diesen Unterbruch nicht verstehen.

„Hat die jahrzehntelange Ausweitung der Wohlstandsungleichheit eine klappernde Klasse von Reportern, Experten und Lobbyisten geschaffen, die ihre Verbindung zu „Mainstream“ Amerika verloren haben?“, fragt er. „Hat der Zusammenbruch der Gewerkschaftsbewegung nicht nur die politischen Muskeln der Arbeit entfernt, sondern auch ihr schlagendes Herz aus dem Bewusstsein der Mächtigen? Hat diese Rezession nur die Art von Menschen hinterlassen, die sich mit den Mächtigen in Washington unterhalten, die ihren Job sicher haben und damit beruhigt weiter kommunizieren, während die Arbeitslosen in Panik geraten? Beobachten wir nun passiv eine unvertretene Unterschicht der Langzeitarbeitslosen vor unseren Augen?“ Er wisse es nicht, so DeLong. „Aber diese Ruhe erstaunt mich wirklich ungehörig“.

PS: Zum Thema ein weiterer interessanter Essay („Why is Washington Dithering with Unemployment High?“; Warum Washington mit hoher Arbeitslosigkeit zaudert“) von Yves Smith in naked capitalism.

Mittwoch, 2. Juni 2010

Produktionslücke (output gap): Methoden

Selbst wenn die Inflation rückgängig ist, und sich zweifelsfrei ein disinflationärer Trend abzeichnet, gibt es Stimmen, die nach Zinserhöhung rufen, um den angeblichen Inflationsdruck zu dämpfen. Menzie Chinn erinnert sich an ähnliche Aufforderungen zu monäterer Zurückhaltung in Japan in den Jahren 2000/01. Prof. Chinn hatte es damals in seiner Position schwer, die Ängste (seinem Chef) zu erklären. Er ist aber der Meinung, dass es jetzt sinnvoll wäre, die Methoden über die Messung der Produktionslücke (output gap) nocheinmal zu überprüfen, anstatt die Rufe nach Zinserhöhung abzuweisen, um zu sehen, ob die Befürchtungen einer grassierenden Inflation aufgrund der Flaute überhaupt einen Sinn ergeben. Chinn macht in diesem Zusammenhang auf ein gerade vorgelegtes Research-Papier von Michael Kiley aufmerksam. Kiley präsentiert eine lesenswerte Übersicht über die verschiedenen Konzepte der Thematik „Produktionslücke“. Was ist aber Output-Lücke? Es gibt viele Definitionen in der ökonomischen Literatur.


CBO Modell, Graph: Michael T. Kiley, Output Gaps, Fed, Washington

Chinn befasst sich in seinem lesenswerten Essay mit drei davon. (1) Die Abweichung des Outputs von seinem langfristigen stochastischen Trend (d.h. der „Beveridge-Nelson-Zyklus“), (2) Die Abweichung des Outputs von dem Niveau, welches mit aktuellen Technologien und der normalen Auslastung von Kapital und Arbeit in Einklang steht (d.h. „Produktionsfunktion-Ansatz“) und (3) Die Abweichung des Outputs vom flexible-Preis-Output (d.h. „Natürliche Wachstumsrate“). Schätzungen eines jeden Konzeptes beruht auf DSGE-Modell (Dynamic Stochastic General Equilibrium), welches von der Fed verwendet wird. Vier Punkte sind hervorzuheben: (a) Die Schätzungen des DSGE-Modells im Hinblick auf die Deveridge-Nelson-Produktionslücke haben Ähnlichkeiten mit denen der politischen Institutionen. Die Wachstumsschätzung des DSGE-Modells hat aber eine höhere Varianz und eine wesentliche andere Kovarianz mit BIP-Wachstum, (b) Die Natürliche Wachstumsrate hängt stark von den Modellannahmen ab und ist nicht geeignet, die Entwicklung des nominalen Zinssatzes in Taylor-Regel in gleicher Weise wie die anderen Modelle zu lotsen, (c) Die Natürliche Wachstumsrate und der Produktionsfunktions-Ansatz konvergieren mit dem Beveridge-Nelson Modell, und (d) Das DSGE-Modell und das Beveridge-Nelson-Modell sind eng verbunden, was Schwankungen in Beschäftigung betrifft, erklärt Chinn.



Graph : Produktionsfunktions-Ansatz, Graph: Michael T. Kiley, Output Gaps, Fed, Washington

Fazit: Chinn’s Beobachtungen nach ist die Produktionslücke sowohl für den Produktionsfunktions-Ansatz als auch für die Schätzungen von CBO in ähnlicher Grössenordnung: 6 bis 7,5% des BIP im zweiten Quartal 2009.

Ölpest im Golf von Mexiko: Lehren für Regulierung

Die amerikanischen Bundesbehörden haben inzwischen strafrechtliche Ermittlungen wegen der Ölpest im Golf von Mexiko eingeleitet. Kenneth Rogoff sieht Parallelen zwischen der Ölpest und der jüngsten Finanzkrise, die allzu schmerzhaft sind: Das Versprechen von Innovation, unergründliche Komplexität und mangelnde Transparenz. Rogoff schreibt in seiner Kolumne („The BP Oil Spill’s Lessons for Regulation“) in Project Indicate, dass die Umweltkatastrophe eine viel tiefere Herausforderung darstellt, wie moderne Gesellschaften mit der Regulierung von komplexen Technologien umgehen sollen. Die zunehmende Geschwindigkeit der Innovation scheint laut Rogoff die Fähigkeit staatlicher Aufsichtsbehörden, mit Risiken umzugehen, geschweige denn, sie zu antizipieren, zu übertreffen. Wohlhabende und politisch mächtige Lobbys üben einen enormen Druck aus, sogar auch auf die robusteste Regierungsstrukturen, erklärt Wirtschaftsprofessor an der Harvard University. Es ist eine riesige Blamage für den US-Präsidenten Barack Obama, der erst kürzlich vor dem Ausbruch der BP-Katastrophe, Offshore Ölförderung freigegeben hat, argumentiert Rogoff.

Das grundlegende Problem der Komplexität, der Technologie und der Regulierung erstreckt sich auf viele andere Bereich des modernen Lebens, legt Rogoff dar. „Nanotechnologie und Innovation bei der Entwicklung künstlicher Organismen bieten ein enormes Potenzial an Segen für die Menschheit, viel versprechende Entwicklung neuer Materialien, Medikamente und Behandlungsmethoden. Doch mit all diesen aufregenden Technologien ist es schwierig, ein Gleichgewicht zwischen „tail risk“ und Innovationsförderung zu finden“, erläutert Rogoff. Die Ökonomie lehrt uns, dass, wenn es grosse Unsicherheit über die katastrophalen Risiken gibt, es gefährlich ist, all zu viel auf den Preismechanismus zu vertrauen. „Leider wissen die Ökonomen viel zu wenig darüber, wie komplexe Systeme, die sich ständig weiter entwickeln, über die Zeit reguliert werden sollen, und sie wissen viel weniger darüber, wie regulatorisch belastbare Institutionen gestaltet werden sollen“, erklärt Rogoff. „Bis die Probleme besser verstanden werden, sind wir verflucht, in einer Welt der Regulierung zu leben, die ihre Ziele permanent über- oder unterschreitet. Die Balance zwischen Technologie, Komplexität und Regulierung ist ohne Zweifel eine der grössten Herausforderungen, mit der die Welt im 21. Jahrhundert konfrontiert ist. Wir können uns ein Scheitern nicht leisten", ist Rogoff überzeugt.

Mythos Inflation: Trend eindeutig disinflationär

Brent Meyer verweist in einem lesenswerten Essay auf der Internetseite von Federal Reserve Bank of Cleveland darauf, dass die Komponente des Konsumentenpreis-Index (CPI) von Zeit zu Zeit einige eigenwillige Preisveränderungen anzeigen, indem sie Inflationssignale in den Daten verdunkeln. Beispiele für diese „noise“ reichen von Fehlmessungen und Feiertagen, die nicht mit Kalenderdaten verlinkt sind (verursacht durch unerwartete jahreszeitliche Schwankungen) bis einmalige Veränderungen in Verbrauchsteuern (wie der jüngste Anstieg der Tabaksteuer). Analysten neigen dazu, diese eigentümlichen „one-off“ Preisbewegungen wegzuerklären, und das zu Recht, da die Auswirkungen solcher Veränderungen auf die eigenartigen Veränderungen im CPI sich über einen längeren Zeitraum verschwinden, erklärt Meyer. Eine Alternative ist, die Technik des getrimmten Mittelwertes zu verwenden, wie z.B. der Median CPI oder 16%-trimmed-mean CPI, zeigt Meyer auf. Beide bieten die Möglichkeit, „noise“ (Störgeräusch) in einer viel konsequenter Art und Weise zu senken, ohne Aktualität zu beeinträchtigen. Meyer gibt ein paar Beispiele für eigenwillige Preisveränderungen in den Daten:


Gebrauchtwagen-Preise, Graph: Brent Meyer, Fed Cleveland, May 2010

(1) Autopreise. Die Preise, die im August 2009 begonnen haben, anzusteigen, sind im April dieses Jahres wiedergesunken, beobachtet Meyer. Das hat mit dem CARS-Programm zu tun: „Cash for Clunkers“ genannt. Während das CARS-Programm lief, wurden Gebrauchtwagen, die gehandelt wurden, verschrottet, anstatt zu den Autohändlern zurückgeliefert zu werden. Die jüngsten Preisveränderungen spiegeln deswegen wahrscheinlich eine künstliche Verknappung des Angebots wider, argumentiert der Ökonom. Das heisst, dass es angesichts der verschärften Kreditkonditionen auch möglich ist, dass ein Teil des Preisanstiegs durch eine Verschiebung der Nachfrage weg von der höheren Preiskategorie für neue Fahrzeuge, welche gewöhnlich mit Kredit gekauft werden, verursacht wurde. Dennoch ist die Korrespondenz zwischen den Preisbewegungungen für Gebrauchtwagen und dem CARS-Programm augenfällig: Die Preise fielen um rund 10% zwischen dem Beginn der Rezession und dem Monat, wo das CARS-Programm lanciert wurde, hält Meyer fest. Seit dieser Zeit haben aber die Preise um mehr als 12% zugelegt.

(2) Mitgliedsbeiträge und Gebühren für Teilnehmer in Sportclubs. Im April wurde für die Preise für „club membership“ der höchste monatliche Anstieg verzeichnet. Die Preis kletterte mit einer Jahresrate von 31%, nach einem Rückgang um 16,4% im März. Solch ein starker Anstieg ist unmittelbar nach einem beträchtlichen Rückgang bezeichnend für das Problem der saisonalen Preisbereinigung oder der Fehlmessungen. Der trimmed-mean (der getrimmte Mittelwert) Ansatz ist nützlich, solche Preisanomalien auszuschliessen. Der Median CPI und 16% trimmed-mean CPI eliminieren den Grossteil des gesamten monatlichen „Störgeräusches“ durch den Ausschluss der höchsten und niedrigsten Preisveränderungen, die i.d.R. symptomatisch für die Eigenheiten sind, erklärt Meyer.


Club Membership Preisentwicklung, Graph: Brent Meyer, Fed Cleveland, May 2010


Fazit: Der aktuelle Trend ist entscheidend disinflationär.

Dienstag, 1. Juni 2010

Warum sollen wir auf Defizitfalken hören?

„Wenn die Politiker die Öffentlichkeit auffordern, etwas zu tun, nur weil die Finanzmärkte es diktieren, hält man am besten den Geldbeutel fest“, schreibt Dean Baker in einem lesenswerten Essay in The Guardian. „Im September 2008 haben sowohl Präsident Bush als auch die demokratische Führung im Kongress darauf bestanden, dass wir den Banken sofort 700 Mrd. $ reichen, weil das ganze Finanzsystem sonst zum Erliegen kommt. Die Drohung hat gewirkt. Die Banken haben 700 Mrd. $ vom Kongress und vieles mehr von der Fed bekommen. Folglich konnten Goldman Sachs, Citigroup und der Rest wieder rentabel erwirtschaften und Rekord-Bonis an „Top-Performer“ auszahlen“, bemerkt der Co-Direktor beim Center for Economic and Policy Research in Washington. Wäre der Markt frei gewesen, wären viele grosse Banken pleitegegangen, indem ihre Aktionäre und Gläubiger eine Pechsträhne gehabt hätten, hebt Baker hervor.

„Die Wall Street und ihre Komplizen schreien nun aber mit den Banken im Rücken, dass wir unsere Hoffnungen für eine Erholung der Wirtschaft auf die lange Bank schieben müssen. Wir sollen uns stattdessen auf die Reduzierung des Defizits konzentrieren. Der Grund dafür sei, dass wir die Finanzmärkte beruhigen müssen“, erklärt Baker. Sie behaupten, dass, wenn wir jetzt nicht aggressiv handeln, das Defizit zu reduzieren, die Bond Vigilantes zu einem Run auf US-Staatspapiere führen werden, wie sie es kürzlich mit Griechenland gemacht haben. Es gibt drei grundsätzliche Probleme mit diesem Argument, legt Baker dar: (1) „Warum sollte jemand darauf vertrauen, was die Ökonom-Komplizen der Banken uns erzählen? Diese Menschen haben die 8'000 Mrd. $ schwere Immobilienblase nicht kommen sehen. Es gibt daher keinen Grund, zu glauben, dass ihre Einsicht in bezug auf die Finanzmärkte heute besser ist als vor zwei Jahren“, (2) „Die Finanzmärkte selbst spiegeln nicht unbedingt die zugrunde liegende Realität der Wirtschaft wider. Warum sollen wir also mitmachen, was in den Finanzmärkten gerade in Mode ist? Immer auf der Jagd nach Wall Street’s Mode? Das ist keine solide Grundlage für eine Wirtschaftspolitik“, und (3) „Das Argument der Defizit-Falken kann nicht ernst genommen werden, weil es einfach für die Wirtschaft schädlich ist“, argumentiert Baker weiter. „Das Land braucht Deficit Spending, bis die private Nachfrage sich vom Zusammenbruch der Immobilienblase erholt hat. Das ist grundlegende Logik. Die prestigeträchtigen Positionen der Defizit-Falken kann die Regeln der Logik nicht aufheben“, hält Baker fest. Die USA sind nicht Griechenland. Die Fed kann und soll, wenn nötig, Staatsanleihen aufkaufen. „Es ist einfach nicht wahr, wenn die Defizit-Falken behaupten, dass das Inflation auslösen wird. Defizit-Falken sind nicht wegen nationaler Insolvenzgefahr besorgt. Sie sind nicht wegen Inflationsgefahr besorgt. Sie sind besorgt, wie sie dem gewöhnlichen Arbeiter den letzten Pfenning abnehmen können, um diesen an die Wall Street zu geben. Das war auch mit TARP so. Der neue Kreuzzug ist jetzt, das Defizit zu kürzen. Sie sind hinter der sozialen Sicherheit der Arbeitnehmer, weil, wie Ben Bernanke, Fed-Chef sagt, das ist, wo das Geld ist. Die Tatsache, dass die Arbeitnehmer für diese Leistungen bezahlt haben, ist für die Wall Street von keiner Bedeutung“, schlussfolgert Baker.

Nouriel Roubini will Grossbanken zerschlagen

Die grösste Finanzkrise der Geschichte schwappt von der Privatwirtschaft auf den öffentlichen Sektor über, schreibt Nouriel Roubini mit Arnab Das in einem interessanten Essay („Solutions for a crisis in its sovereign stage“) in FT. „Im besten Fall wird Europa’s Erholung darunter leiden, dass der einstürzende Euro auf Wachstum in den wichtigsten Handelspartnern lastet. Im schlimmsten Fall könnte der Zerfall der Gemeinschaftswährung oder eine Welle von ungeordneten Defaults das Finanzsystem aus den Angeln hebeln und in eine double-dip Rezession münden“, so die Autoren. Wie ist es aber dazu gekommen? Beginnend in den 1970er Jahren erleichterten die Liberalisierung der Finanzmärkte und die Innovationen die Kreditvergabe an den öffentlichen und privaten Sektor, erklärt Roubini. „Haushalte in den Industrieländern konnten dank Fremdkapital über ihre Verhältnisse leben. Der Prozess wurde durch immer laxere Regulierung, durch immer häufigere und teuerere IWF-Rettungsaktionen und lockere Geldpolitik in den 1990er Jahren weiter gefüttert“, erklärt Roubini. „Die politische Unterstützung für die Demokratisierung des Kredit- und Wohneigentum-Besitztums hat den Trend nach 2000 noch mehr verstärkt“, so Roubini.

„Paradigmenwechsel wurde aufgerufen, um das von Schulden getriebene Wirtschaftswachstum weltweit zu rechtfertigen. Es kam zu einem Übergang vom „Kalten Krieg“ zum „Washington Consensus“. Die sog. Schwellenländer wurden in die Weltwirtschaft integriert. Das Ergebnis war ein Defizit in Ländern mit Konsumrausch und ein Überschuss in Ländern mit Export-Boom, wobei Lieferanten den Absatz gern selsbt finanzierten“, legt Roubin dar. Die globale Produktion und das Wachstum, Unternehmensgewinne, Haushaltseinkommen und Vermögen, öffentliche Einnahmen und Ausgaben haben laut Wirtschaftsprofessor an der Stern School of Business, New York University vorübergehend deutlich über das Gleichgewicht hinausgeschossen. Die Regierungen sind nun überall dran, Schulden aufzunehmen, um private Verluste zu sozialisieren, argumentiert Roubini weiter. „Aber öffentliche Verschuldung bedeutet letzlich private Belastung: Staaten bestehen durch die Besteuerung von privaten Einkommen und Vermögen oder über die ultimative Vermögensabgabe durch Inflation oder gar Default“. „Schliesslich müssen auch Staaten Schulden abbauen (deleveraging). Sonst wird die Staatsverschuldung explodieren. Siehe Griechenland“, bemerkt Roubini. „Es fehlt an Koordination. Deutschland führt einseitig ein Verbot für „nackte Leerverkäufe“ und die USA verfolgen ihre eigene Reform des Finanzsektors“, hebt er hervor. Die Überschussländer sind nicht bereit, den Konsum zu stimulieren, während die Defizitländer unnachhaltig Staatsschulden anhäufen. Die Euro-Zone bietet einen Anschauungsunterricht, wie auf eine systemische Krise nicht zu reagieren ist, erläutert der Gründer und Chairman von Roubini Global Economics. „Statt lokale Reaktionen zu balkanisieren, brauchen wir eine umfassende Lösung für dieses globale Problem“, ist Roubini überzeugt: (1) „Die Euro-Zone muss sich zusammenreissen. Sie muss deregulieren (?), liberalisieren, den Süden reformieren, im Norden die Nachfrage ankurbeln, um Dynamik und Wachstum wiederherzustellen. Die Geldpolitik muss gelockert werden, um die Deflation zu bekämpfen und die Wettbewerbsfähigkeit zu fördern. Mechanismen zur Umstrukturierung von Staatsschulden müssen eingeführt werden, um Moral Hazard und Bail-outs zu begrenzen. Die Erweiterung der Euro-Zone muss aufs Eis gelegt werden“, (2) „Gläubiger müssen einen Schlag hinnehmen und Schuldner müssen sich anpassen. Das ist ein Solvenz-Problem. Griechenland ist die Spitze des Eisbergs“ und (3) „Es ist Zeit für eine radikale Finanzreform. Die Mehrzahl der Vorschläge sind unzureichend oder irrelevant. Grosse Finanzinstitute müssen entflochten werden. Sie sind zu gross, zu vernetzt und komplex geworden. Wir müssen zurück zum Glass-Stegall Act“, so Roubini.

Wie Wall Street die Politik erobert

Simon Johnson berichtet mit Freude darüber, dass sich die Einstellung gegenüber Grossbanken rund um die Welt und das gesamte politische Spektrum wandelt. In Grossbritannien sucht beispielsweise die neue Mitte-Rechts-Regierung nach Wegen, um die Grossbanken aufzubrechen: „Wir werden Schritte unternehmen, um systemische Risiken im Banken-System zu verringern und eine unabhängige Kommission einrichten, um das komplexe Thema der Trennung der Geschäftsbanken und der Investmentbanken in einer nachhaltigen Weise untersuchen zu lassen“, hiess es in einer Stellungnahme. Die Europäische Kommission signalisiert andererseits, dass eine Bankenabgabe kommt, vermutlich vom IWF vorgeschlagen. Das verlangt höhere Preise von grösseren Banken und von Banken mit weniger Kapital, erklärt Johnson. Die EU ist sonst zunehmend besorgt über den Kapitalmangel bei den deutschen Banken, v.a. wegen der leichtsinnigen Kreditvergabe in Irland und Spanien und wegen der Gefahren, die von Banken ausgehen, die grösser sind als ihre Heimatländer (wie z.B. in der Schweiz).



Compensation of Regulators and Regulated, Graph: Thomas Ferguson and Robert Johnson, in : INET Conference at the King’s College, Cambridge University, April 2010

Doch die Obama-Regierung weigert sich, ihre Meinung im geringsten zu ändern. Sie vergrabt sich hinter der Idee, dass sie in Sachen Bankpolitik die gemässigte Mitte vertritt. Das ist eine schwache Position, argumentiert Johnson. Es ist einfach ein Mythos ohne faktische Grundlage, dass die Leute, die sich tatsächlich für weitere Reformen einsetzen, das Zentrum repräsentieren und nicht den linken Flügel der Demokratischen Partei. Selbst Tim Geithner, der US-Finanzminister drückt seine Frustration über die Grossbanken mit den Worten aus: „The Warlords“. Die Leute, die damit beauftragt sind, zu regulieren, fangen an, die Welt durch die Augen der grössten Spieler des privaten Sektors zu betrachen. Bitte beachten Sie, dass Hedge Fonds Manager beispielsweise Grossbanken für gefährlich halten und dass diese (d.h. Grossbanken) wieder beginnen würden, in einer rücksichtslosen Art und Weise Mismanagement zu betreiben, erklärt Johnson. Er redet sogar von einer „kognitiven Erfassung, welche tief ins Finanzsystem geht“. Geithner besteht jedoch darauf, die Reformgesetzgebung von der (politischen) Mitte her anzupacken. „Das ist aber einfach kein Links-Rechts-Problem“, betont Johnson zu Recht. Das ist eine regulatorische Erfassung (regulatory capture), wie von George Stigler (ein Mann der Rechten) von der Uni Chicago vorgesehen wird. Geithner vertritt nicht näher eine moderate, zentristische Sicht in Sachen Finansektor als Robert Rubin und Larry Summers, hält Johnson fest. „Die Einschränkungen von Grösse, Verschuldungsgrad und Tätigkeit von Grossbanken hätten viel stärker im Gesetzentwurf des Senats niederschlagen können“, so Johnson. Matt Taibbi hat eine gute Darstellung dessen, was war und was hätte sein können. Und das wird von der Regierung auch nicht verneint. „Der Zusatzartikel von Brown-Kaufman zur Vorlage des Senats, wenn erlassen worden wäre, hätte dafür gesorgt, dass die sechs grössten Banken in Amerika zerschlagen worden wären, wenn wir dafür gewesen wären. Das sind wir aber nicht“, ist der Standpunkt mancher Regierungsvertreter. „Die Verantwortlichen in Sachen Strategie-Wechsel gegenüber Grossbanken sind nicht dumm und sie sind auch nicht korrupt, Dinge zu tun, nur weil jemand an der Wall Street sie auffordert. Unsere Top-Politiker sind einfach davon überzeugt, dass das, was für Wall Street gut ist, auch für die amerikanische Wirtschaft gut“, schlussfolgert Johnson. Diese Mentalität nennt Johnson, der ehem Chefökonom des IWF im Übrigen „cultural capture“ (siehe hier) in ihrer reinsten und extremsten Form. Damit gemeint ist eine Art geistige Macht („kultureller Feldzug“), die der Wall Street ein gewisses Mass an politischem Einfluss verleiht, der mit keinem Beitrag der Zahlung für korrupte Politiker gekauft werden kann.

PS: Zum Thema „Der Mann der Mitte“ ein lesenswerter Essay („Obama the Centrist“) von Bradford DeLong in Project Syndicate.