Sonntag, 18. März 2018

Erwerbstätigkeit, Vollbeschäftigung und Inflation in Europa


Die Erwerbstätigkeit im Euroraum ist im 4.Q 2017 um 0.3% (in der EU28 um 0,2%) gestiegen, wie die Schätzungen von Eurostat vom Mittwoch melden.

Laut Eurostat waren im 4.Q 2017 in der EU28 236,8mio Männer und Frauen erwerbstätig, davon 156,7mio im Euroraum. Dies sind die höchsten Werte, die jemals in der EU27 und im Euroraum verzeichnet wurden.

Der Rückgang der Arbeitslosigkeit in Europa ist zwar erfreulich. Aber der Teufel steckt im Detail: 

Die geleistete Arbeitszeit pro Beschäftigten ist im selben Zeitraum gesunken, und bleibt damit um 4% unter ihrem Vorkrisenniveau, wie PictetWM aus Genf am Freitag berichtet.

Zwischen dem 1.Q 2008 und dem 2.Q 2013 ging der von den Unternehmen insgesamt verwendete Arbeitseinsatz massiv zurück.

Der Rückgang war in Bezug auf die geleisteten Arbeitsstunden signifikanter als in Bezug auf den Personalstand. Diesen Entwicklungen lag ein Rückgang der durchschnittlich geleisteten Arbeitsstunden pro Person zugrunde, die während der Erholung weitgehend stabil blieb.

Der stationäre Zustand der geleisteten Arbeitsstunden pro Mitarbeiter ist zu einem grossen Teil auf eine Zunahme der Teilzeitbeschäftigung zurückzuführen.



Beschäftigung und geleistete Arbeitsstunden im Euroraum, Graph: PictetWM, Genf, March 16, 2018


Einige Arbeitnehmer mögen sich für eine Teilzeitbeschäftigung entschieden haben. Aber viele Arbeitnehmer haben möglicherweise unfreiwillig eine Teilzeitbeschäftigung angenommen.

Es gibt im Euroraum z.Z. mehr als 6,6 Mio unterbeschäftigte Teilzeitbeschäftigte, eine Million mehr als vor der Krise, was zugleich hilft, auch die gedämpfte Entwicklung der Inflation im Euroraum zu erklären.

Wichtig ist in diesem Zusammenhang, in Erinnerung zu rufen, wie der Begriff „Vollbeschäftigung“ heute verwendet wird.

Bill Mitchell erläutert in einem lesenswerten Eintrag im Blog Makroskop, dass Vollbeschäftigung als ein primäres Ziel der Wirtschaftspolitik mit der Formulierung der sog. „Natural Rate Hypothese“ (NRH) faktisch aufgegeben wurde.

Die NRH impliziert, dass die „natürliche Arbeitslosenrate“ mit Fiskalpolitik nicht reduziert werden kann. Das ist aber empirisch fragwürdig.

Es bedürfe allein Strukturreformen, heisst es weiter. Deshalb konzentriert sich die politische Debatte auf Deregulierung, Privatisierung und Kürzungen der Sozialleistungen im Wohlfahrtsstaat, mit fatalen Auswirkungen für Millionen von Menschen.

Der Begriff der „Vollbeschäftigung“ wird damit „seit längerer Zeit so definiert, dass er erlaubt, die Konsequenzen schlechter Wirtschaftspolitik ideologisch zu verschleiern“, wie Mitchell zutreffend formuliert.

Das NAIRU-Konzept unterstellt, dass es nur eine zyklisch stabile Arbeitslosenrate gibt, die mit einer stabilen Inflationsrate vereinbar ist.

Die Fokussierung auf die „Bekämpfung der Inflation“ geht aber heute mit anhaltend hohen Arbeitslosen- und Unterbeschäftigungsraten einher.

Es ist daher naheliegend, festzuhalten, dass die Politik heute unter dem Einfluss des NAIRU-Konstrukts die Orientierung am Ziel der Vollbeschäftigung aufgegeben hat.

Der Begriff „Vollbeschäftigung“ hat heute nichts mehr mit seiner ursprünglichen Bedeutung zu tun, nämlich einem Zustand, bei dem jedem Arbeitswilligen auch ein Arbeitsplatz zur Verfügung gestellt wird.

Die Regierungen nehmen heute die veränderte Definition des Begriffs der „Vollbeschäftigung“ zum Anlass, das Versagen der eigenen Wirtschaftspolitik in einen Erfolg zu verwandeln, wie Mitchell hervorhebt: Vollbeschäftigung existiert heute, wann immer die Arbeitslosenrate den NAIRU nicht überschreitet.

Aber die These, wonach, „sobald die Arbeitslosigkeit über einer bestimmten Rate liegt, die Inflation steigt und umgekehrt“, schafft keine Abhilfe, um die Beschäftigung im Allgemeinen zu stützen. 

Da damit unterstellt wird, dass eine weitere Konjunkturbelebung bei einer bestimmten Arbeitslosenrate nicht zu einer Reduktion der Arbeitslosigkeit, sondern nur zu einem Anstieg der Inflation führt, können die Aussagen des NAIRU-Konzeptes ohne weiteres angezweifelt werden.

Fazit: Hohe Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung dürfen nicht zur Normalität werden.


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