Freitag, 12. Dezember 2008

Der Schwarze Schwan

Buchbesprechung*:

Nassim Nicholas Taleb: Der Schwarze Schwan. Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse. Hanser Verlag, München, 2008.


Nassim Nicholas Taleb ist Finanzmathematiker, Essayist und Unternehmer. Derzeit arbeitet er als Dean’s Professor für die Wissenschaft der Unsicherheit an der University of Massachusetts in Amherst. Das Buch erschien in Englisch vor dem Ausbruch der aktuellen Wirtschaftskrise. Nun liegt die deutsche Übersetzung vor. Der Autor analysiert in diesem grandiosen Werk die Struktur der Zufälligkeit in der empirischen Realität.


Er teilt die Welt in zwei Klassen von Zufallsvariablen. In der einen Klasse („Mediokristan“) geht es brav und artig vor sich. Sie ist für Schwarze Schwäne nicht anfällig. Das Ganze wird nicht von einem einzigen Fall oder einer einzigen Beobachtung bestimmt. Die Ereignisse sind nach der „Glockenkurve“ oder ihren Variationen verteilt. Die andere Klasse („Extremistan“) ist unordentlich und weniger platonisch. Sie ist für Schwarze Schwäne anfällig. Es dauert lange, bis man erkennt, was vor sich geht. Es ist schwierig, auf Grundlage von Infos über die Vergangenheit Vorhersagen zu machen. Mit den beiden Klassen will Taleb aufzeigen, dass sie sich radikal unterscheiden, aber es zwischen Zufälligkeit und Nichtzufälligkeit keinen grossen Unterschied gibt.

Eine der allerersten Lehren, die aus der anrollenden Kapitalmarktkrise gezogen wurde, bevor sich die Lage in den vergangenen drei Monaten zugespitzt hat, war die, dass die Modelle, welche die Finanzwelt anwendet, um Risiken einzuschätzen, nicht funktionieren. Das Risikomanagement der Banken hat m.a.W. kläglich versagt. Warum? Weil die aktuellen Modelle nicht auf Extremsituationen eingestellt sind. Als einfaches Beispiel ist die „Glockenkurven“-Methode, zu erwähnen, die eigentlich gar nichts sagt. Denn die „Glocken-Kurve“ ignoriert grosse Abweichungen und kann mit ihnen nicht umgehen. Zudem ist die Volatilität entweder hoch oder niedrig. Es gibt niemals nur eine mittlere Volatilität. Dazu kommen noch die Nachteile der Komplexität. Je komplexer beispielsweise die synthetischen Finanzprodukte (Derivate u.ä.) werden, desto schwieriger wird es, ihre Entwicklung vorauszusagen. Die Banken scheinen deshalb mittlerweile die Kontrolle über das Finanzsystem verloren zu haben. Die Mehrzahl davon hat nämlich nach wie vor keine Ahnung von Wertschriften, die sie besitzt. Aber nicht nur die Banker erliegen der Täuschung des übermässigen Selbstvertrauens, sondern alle Menschen. Das frappante Beispiel, das der Autor bringt, ist das von der „Anatomie eines Schwarzen Schwans“. Wir sehen jahrelang keinen schwarzen Schwan und schliessen daraus, dass es in der Tat keinen gibt. Die Quintessenz ist, „das, was wir nicht wissen, viel bedeutungsvoller ist als das, was wir wissen“. Denn „Schwarze Schwäne werden oft dadurch verursacht und verschlimmert, dass sie unerwartet kommen“. Die zentrale Aussage des Buches ist „unsere Blindheit gegenüber dem Zufall, insbesondere gegenüber grossen Abweichungen“. Eine verblüffende Fallstudie aus dem Buch: Ein Truthahn, der jeden Tag fürsorglich gefüttert wird, wird am Nachmittag vor dem Erntedankfest geschlachtet. Der Todestag erscheint dem Truthahn als „unvorhersehbarer Zufall“, nicht aber dem Metzger.

Die Tatsache, dass ein einziger Fehler für die Pleite von Lehman Brothers und vielen anderen Banken sowie Sparkassen, die gegen überraschende Ereignisse gewettet haben, verantwortlich ist, zeigt, wie instabil und fragil das ganze Finanzsystem ist. Während heute die Verkäufer von Risiken (Banken) staatlich gerettet werden, werden die Halter von Risiken (Anleger und Sparer) fallen gelassen. Die Letzteren verlieren entweder ihre Jobs oder müssen Einkommensverluste in Kauf nehmen. Im Zuge der gegenwärtigen Krise wird sich das Verhältnis von Gesellschaft und Wirtschaft daher grundsätzlich verändern. Eine empirische Analyse der Finanzhistorie mit einem philosophischen Hintergrund. Das ist das beste Buch des Jahres.

* erscheint in der Ausgabe 211 von 12. Dezember 2008.

Cezmi Dispinar

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