Samstag, 8. Februar 2020

Capitalism, Alone


Buchbesprechung:

Branko Milanovic: Capitalism, Alone. The Future of the System That Rules the World, Harvard University Press, Sept 2019.

Der Kapitalismus ist derzeit weltweit das einzige sozio-ökonomische System. Und es gibt zwei verschiedene Arten von Kapitalismus: 

den liberal-meritokratischen Kapitalismus, der sich in den letzten zweihundert Jahren im Westen zunehmend entwickelt hat, und den staatlich geführten politischen oder autoritären Kapitalismus, den China beispielhaft darstellt, der aber auch in anderen Teilen Asiens existiert (Singapur, Vietnam, Birma) und in Teilen Europas und Afrikas (Russland und die Kaukasusländer, Zentralasien, Äthiopien, Algerien, Ruanda).

Branko Milanovic beschreibt in seinem neuen, tiefgreifenden Buch die beiden Arten des Kapitalismus, die miteinander zu konkurrieren scheinen, ausgesprochen ausführlich.

Er erklärt mit Nachdruck, dass er sich eher auf ihre inhärenten Merkmale als auf vorübergehende Anomalien konzentriert.

Der Unterschied zwischen systemischen und zufälligen Eigenschaften ist laut Milanovic entscheidend, wenn wir die langfristige Entwicklung des liberalen meritokratischen und politischen Kapitalismus untersuchen wollen, nicht nur vorübergehende Schwankungen. 

Der Autor forscht als Wirtschaftsprofessor im Stone Center für sozioökonomische Ungleichheit am Graduate Center der City University of New York

Er fokussiert insbesondere auf die sozialen und wirtschaftlichen Strukturen, die die beiden Systeme reproduzieren, v.a. in Bezug auf die Einkommensungleichheit und Klassenstruktur.

Die Aussagen und Beobachtungen des Autors sind präzis und eindrücklich. Ist beispielsweise China ein kapitalistisches Land? Die Antwort lautet ja, wenn wir dazu die Definition von Max Weber zugrunde legen. Oder, wo war der Kommunismus erfolgreich? Nicht unbedingt, Sozialismus war in reichen Ländern ökonomisch viel weniger erfolgreich als in armen Ländern.

Der politische Kapitalismus ist von drei systemischen Merkmalen gekennzeichnet: 1) effiziente Bürokratie (Verwaltung), 2) fehlende Rechtsstaatlichkeit und 3) die Autonomie des Staates.

Es kann nicht genug betont werden, dass Korruption für den politischen Kapitalismus und damit für China systemisch und endemisch ist. 

Dies liegt daran, dass die Rechtsstaatlichkeit in Systemen des politischen Kapitalismus von Natur aus flexibel ausgelegt werden muss. Diese Situation hilft nur den Herrschern, das System effektiver zu kontrollieren, ermöglicht aber auch anderen (einschliesslich der Elite), sich zu bereichern (via Veruntreuung, Unterschlagung usw.).

Apropos: Elite. Die Frage, wie sich der Kapitalismus weiter entwickeln wird, hängt davon ab, ob der liberal-meritokratische Kapitalismus zu einem fortgeschrittenen Stadium gelangen kann, dem des Volkskapitalismus, in dem (1) die Konzentration der Kapitaleinkommen geringer wird, und (2) die Einkommensungleichheit abnimmt und (3) die Einkommensmobilität sich zwischen den Generationen ausweitet. Der letzte Punkt würde auch die Bildung einer dauerhaften Elite verhindern, bekräftigt Milanovic.

Um aber vorwärts zu kommen, müssen folgende Kriterien erfüllt werden: (1) Steuervorteil für den Mittelstand, insbesondere in den Bereichen Zugang zum Finanz- und Wohneigentum, (2) eine deutliche Aufstockung der Mittel und eine Verbesserung der Qualität der öffentlichen Schulen, (3) ein weiteres Ziel ist es u.a., Migration zu ermöglichen, ohne nationalistische Gegenreaktionen zu provozieren und (4) streng limitierte und ausschliesslich öffentliche Finanzierung der politischen Kampagnen.

Eine völlig andere Entwicklung des liberalen Kapitalismus wäre ansonsten eine Bewegung in Richtung eines plutokratischen und letztendlich politischen Kapitalismus.

Denn die Eliten glauben möglicherweise auch, dass sie in der Lage sind, die Gesellschaft effektiver zu führen, indem sie das technokratische Instrumentarium des politischen Kapitalismus einsetzen.

Ein Übergang zum politischen Kapitalismus könnte beschleunigt werden, wenn junge Menschen zunehmend von Mainstream-Parteien enttäuscht würden (Stichwort: Politik-Verdrossenheit), die mehr oder weniger dieselbe Politik verfolgen.

Dass der politische Kapitalismus die Politik aus den Köpfen der Menschen verbannen will, ist dabei ein offenes Geheimnis.

Der Autor bemüht sich, dem Leser nahezulegen, dass es an uns liegt, dem liberalen Kapitalismus, der ja nicht makellos ist, mehr „menschliche Gestalt“ zu geben. Ansonsten würde die dem System innewohnende Korruption die Oberhand gewinnen, mit fatalen Folgen für die menschliche Existenz. 

Wie lässt sich sonst erklären, dass eine liberale internationale Ordnung, in der alle wichtigen Akteure kapitalistisch und globalistisch waren, in einen Zustand allgemeinen Gemetzels geraten könnten? Der Autor meint damit den Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Ein wertvolles Buch. 



Branko Milanovic: “Capitalism, Alone”, Harvard University Press, 2019.









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