In der Debatte „Stimulus“ (Konjunkturprogramm) versus „Fiscal Austerity“ (fiskalische Sparmassnahmen) geht es im Grunde genommen mehr oder weniger um die Rolle des Staates. Diese Frage beschäftigt westliche Denker zumindest seit Plato (5. bis 4. Jahrhundert v. Chr.). Aber auch in anderen kulturellen Traditionen haben sich Denker damit auseinandergesetzt: wie Konfuzius (6. bis 5. Jahrhundert v. Chr.) in China und Kautilya (4. bis 3. Jahrhundert v. Chr.) in Indien. Martin Wolf präsentiert in einem lesenswerten Essay („What is the role of the state?“) in FT die Perspektive des modernen demokratischen Westens. Die Kernaufgabe des Staates ist Schutz. Die Auffassung würde von jedermann, ausser Anarchisten, welche die schützende Rolles des Staates für unnötig halten, geteilt. Die meisten Menschen akzeptieren, dass der Schutz vor Raubtieren sowohl extern als auch intern ein natürliches Monopol ist: Die Anwesenheit von mehr als einer solchen Organisation in einem bestimmten Gebiet ist ein Rezept für ungezügelte Gesetzlosigkeit, Bürgerkrieg oder beides.
In seinem Buch „Power and Prosperity“ beschreibt Mancur Olson den Staat als „stationären Banditen“. Ein stationärer Bandit ist besser als ein umherstreifender Bandit, bemerkt Martin, weil dieser kein Interesse an der Entwicklung der Wirtschaft hätte, während der erstere schon. Es dürfte aber nicht viel besser sein, weil diejenigen, die den Staat kontrollieren, versuchen würden, den Überschuss aus der Subsistenz, die sie wegen der Kontrolle erzeugen, zu entnehmen, erklärt Wolf weiter. In dem zeitgenössischen Westen gibt es laut Wolf drei Schutzmechanismus gegen übermässige Ausbeutung durch den stationären Banditen: Exit, Stimme und Zurückhaltung: (1) Mit Exit meint der Autor die Möglichkeit, der Kontrolle einer bestimmten Gerichtsbarkeit zu entlaufen, durch Auswanderung, Kapitalflucht usw. (2) Mit Stimme ist das Erlangen eines gewissen Masses an Kontrolle durch Abstimmung gemeint und (3) Zurückhaltung bedeutet unabhängige Gerichte, Gewaltenteilung, Föderalismus usw. Das Problem ist vor diesem Hintergrund, was ein demokratischer Staat, welcher als eine erzwungene Schutzordnung gesehen wird, zu tun berechtigt ist. Das ist genau das, womit die Politik sich befassen muss, so Wolf.
Es gibt eine Strähne in klassisch liberalen oder im zeitgenössischen amerikanischen Sprachgebrauch in libertären Denken, die glaubt, dass die Antwort darauf ist, die Rolle des Staates so eng und die Rechte des Einzelnen so weit zu definieren, dass viele politische Entscheidungen (z.B. Einkommensteuer oder allgemeine Gesundheitsversorgung) a priori ausgeschlossen werden. M.a.W. wird auf diese Weise gesucht, viel von Politik durch verfassungsmässige Beschränkungen abzuschaffen. „Ich betrachte dies als eine hoffnungslose Strategie, sowohl intellektuell als auch politisch“, argumentiert Martin. (a) Intellektuell hoffnungslos, weil die Werte, die die Leute innehaben, viel und divergent sind und manche dieser Werte erlauben nicht nur, sondern sie fordern, dass der Staat schwache, gefährdete und unselige Menschen schützt. Darüber hinaus sind solche Werte nicht falsch. Die Realität ist, dass die Leute viele Werte halten, die häufig miteinander nicht kompatible Kernwerte sind. Libertäre (Libertarians) argumentieren, dass der einzig relevante falsche Wert der Zwang durch den Staat ist. (b) Politisch hoffnungslos, weil die Demokratie Debatte zwischen sehr unterschiedlichen Meinungen erfordert. Der Versuch, eine breite Palette von Werten aus der politischen Sphäre mit verfassungsmässigen Mitteln auszuschliessen, wird scheitern, erklärt Wolf. Unter genügend Druck ändert sich die Verfassung von selbst, über Gesetzesänderungen oder Neuinterpretationen. Was soll also die schützende Rolle des Staates einschliessen? Die klassisch Liberalen würden zugunsten von „Nachtwächter“-Rolle („night-watchman“) argumentieren. Die Verantwortlichkeiten des Staats sind begrenzt zum Schutz der Individuen vor Zwang, Betrug, Diebstahl sowie die Verteidigung des Staates vor ausländischen Agresssion. Akzeptiert man die Legitimität vom Gebrauch des Zwangs (Steuern), um die oben genannten Güter zu schützen, gibt es keinen prinzipiellen Grund, warum man die Bereitstellung von anderen Gütern nicht akzeptieren sollte, welche nicht gut, oder überhaupt nicht, durch nicht-politische Mittel erbracht werden können, ist Wolf überzeugt.
Fazit: Martin Wolf unterstützt staatliche Altersvorsorge, staatlich finanzierte Krankenversicherung und staatliche Regulierung von Umwelt und anderen Externalitäten.
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