Buchbesprechung
Gary B.
Gorton:
Misunderstanding Financial Crises. Why we don’t see them coming. Oxford University Press, Oxford,
New York, 2012:
Warum haben Ökonomen die Finanzkrise nicht kommen sehen?
Was sind Finanzkrisen? Warum geschehen sie? Und warum hat z.B. in den USA zwischen
1934 und 2007 keine Finanzkrise stattgefunden? Es gibt noch mehr ähnliche
Fragen, die auch mehr als vier Jahre nach dem Ausbruch der Krise nicht an
Aktualität verloren haben. Die reale Frage lautet allerdings, was die Ursachen
des Missverständnises der Finanzkrisen sind. Es hat mit der Erkenntnistheorie
der Wirtschaftswissenschaften zu tun, bemerkt Gary Gorton in seinem neuen Buch.
Der an der Yale
University lehrende Wirtschaftsprofessor legt in diesem Zusammenhang
grossen Wert auf das Verb „sehen“ in der anfangs gestellten Frage. Was haben
Ökonomen gesehen, wenn sie vor dem Finanzsektor gestanden sind? Es kommt auf
den Blickwinkel an. Sie haben die Möglichkeit einer systemischen Krise nicht gesehen.
Aber sie haben auch nicht gesehen, wie sich die Kapitalmärkte und das Banking
System in den vergangenen 30 Jahren entwickelt haben. Ja, es hat mit
intellektuellem Versagen zu tun. Die nachfolgende entscheidende Frage ist in
diesem Kontext, wie die Wirtschaftswissenschaft Erkenntnisse produziert.
Ökonomen haben geglaubt, dass das Problem der Krisen
gelöst worden sei. Und sie dachten, dass Krisen in Marktwirtschaften einfach
nicht eingewurzelt sind. Weder die erste noch die zweite Ansicht trifft im
Angesicht der Beweise, die die anhaltende Finanzkrise offen legt, zu. Es gibt
also ein grundsätzliches Missverständnis im Hinblick auf die Krisen, hält Gorton fest. Es sind aber nicht nur Ökonomen, sondern auch die Rating-Agenturen
und Aufsichtsbehörden, die die Krise nicht haben kommen sehen.
Gorton stellt vor allem die „Quite Period“ (d.h. die sog. „Great
Moderation“) in den Mittelpunkt seiner gesamten Analyse hin. Es handelt
sich dabei um die Zeitperiode von 1934 bis 2007, wo in den USA dank einer
angemessenen Regulierung der Finanzmärkte keine Finanzkrise stattgefunden hat.
Der starke und dramatische Abbruch der „Quite Period“ legt laut Gorton durch die gegenwärtige Finanzkrise und die Fakten der sich historisch
und international wiederholenden Finanzkrisen nahe, dass es eine tiefere als eine
episoden-spezifische und multi-kausale Erklärung geben muss
Die Ursache von Finanzkrisen ist laut Gorton die
Anfälligkeit von Transaktionsmedien,
d.h. der privat ausgegebenen Schuldverschreibungen der Finanzinstitute, wie
z.B. der privaten Bank-Schuldtitel (private
bank notes, die in den USA vor dem Civil War existierten), Sichteinlagen (checking accounts), Commercial Papers (kurzfristige,
unbesicherte Schuldtitel erster Adressen), Wertpapierpensionsgeschäfte (repo). Kurzum: Die Formen des Geldes,
die i.d.R. für kurzfristige Verbindlichkeiten von Finanzintermediären
eingesetzt werden, welche jedoch vorwiegend ausserhalb des regulierten
Bankensystems, nämlich im Shadow Banking
System bereitgestellt wurden.
Diese Art von Geld existiert für einen
bestimmten Grund: Nämlich, um Transaktionen durchzuführen. Aber die neuen
Formen des Geldes sind verwundbar, weil die Möglichkeit besteht, dass die
Einleger (Gläubiger) stattdessen plötzlich (im Falle eines zunehmenden
Missvertrauens in Bezug auf die Sicherheiten, die dahinter stehen) nach Bargeld
(cash) verlangen, d.h. das Geld
zurückziehen. Gortons Ansicht nach herrscht aber in der Wirtschaft ein
Missverständnis im Zusammenhang mit dem Geld-Abzug oder Aufkündigungen von
privaten Schuldverschreibungen, was wiederum einen Teil der gesamten Problematik
darstellt. Aus diesem Grund sind Paniks an sich keine unvernüftige Ereignisse.
Eine Finanzkrise ist also in der einfachen Form ein
Ausstieg aus einer Bank-Schuldverschreibung. Ein solcher Vorgang kann im
Finanzsystem einen massiven Schuldenabbau (deleveraging)
auslösen, was im Grunde genommen den Anfang der Debt Deflation markiert. Es ist nicht die Aktiv-Seite der Banken,
die problematisch wirken, sondern die Passiv-Seite
der Bilanz. Die Finanzintermediäre können möglicherweise solche
Schuldverschreibungen nicht einlösen, wenn die Papiere plötzlich zurückgezogen
oder nicht erneuert werden. Wenn das ganze Banking System vertragliche
Anforderungen nicht akzeptieren (d.h. einlösen) kann, dann entsteht ein
systemisches Problem. Der Ausgangspunkt ist m.a.W. „bank debt for cash“, und zwar en
masse.
Es ist bemerkenswert, dass Gorton die (kurzfristigen)
Schuldtitel der Banken als Output der
Banken beschreibt. Solche Schuldverschreibungen sind durch (private) Sicherheiten
gedeckt, z.B. durch einen Vermögenswert der Bank oder eine spezielle Anleihe. Es
ist aber eine Tatsache, dass es für den privaten Sektor nicht möglich ist,
risikolose Sicherheiten (collateral)
herzustellen. Weil die Schuldverschreibungen nicht risikofrei sind, sind sie
verwundbar, wenn sie nicht erneuert (roll-over)
werden, weil zum Beispiel Einleger (Bankkunden) Probleme in Bezug auf die
Sicherheiten „entdecken“. Das heisst, dass die Rückzahlung der
Bankschuldverschreibungen von der Zahlungsfähigkeit der betreffenden Bank
abhängt. Eine Finanzkrise ist daher ein Ausstieg aus einer
Bank-Schuldverschreibung, was einen Sturm auf eine Bank (bank run) auslösen kann. Und das ist ein der Marktwirtschaft
innewohnendes Problem.
Die Finanzkrise von 2008 ist insofern verwirrend, als es ihr nicht ein Bank Run via Menschen, sondern via
Investmentbanken vorausging. Das ist ein gewichtiger Unterschied zu
Finanzkrisen von früher, nämlich der Ära (1914)
vor der Gründung der Fed. Der Privatsektor versucht zwar durch
Finanzinnovationen, Sicherheiten für das private Geld zu produzieren, um das
Risiko von Paniks zu vermeiden. Aber nur der Staat kann vollkommen risikolose
Sicherheiten (collateral) bereitstellen.
Damit die Schuldtitel von Banken als Geld verwendet werden können, müssen sie
liquid sein und zu pari gehandelt werden. Eine Finanzkrise, die i.d.R. mit
Schuldverschreibungen der Banken zu tun hat, kommt dann zustande, wenn
Marktteilnehmer im Hinblick auf den Wert der Bank-Schuldtitel misstrauisch
werden. Es kann also ohne bank debt
keine Finanzkrise geben. Die Finanzkrisen sind deshalb im Kern immer
diegleichen: eine plötzlich erfolgende grosse Nachfrage nach Bargeld.
Die (systemische) Finanzkrise von 2008 war ein Sturm (run) auf Repo-Geschäfte, Prime Broker
Balances und Asset-Backed Commercial Papers (ABCP). Das Geschäft mit Die Verbriefung (securitization) ist infolgedessen dramatisch geschrumpft und damit
fast in Bedeutungslosigkeit verschwunden. Die Krise hat dadurch ein
wesentliches Missverständnis aufgedeckt, dass Aufsichtsbehörden und Ökonomen
nicht wussten, welche Unternehmen Banken waren und welche Schuldtitel als
„Geld“ gelten. Sie haben nicht wahrgenommen, dass Repo (repurchase aggrements)
und ABCP auch als Geld „gehandelt“
werden. Das sind die zwei wichtigsten Instrumente des Geldmarktes.
Was auch nicht vergessen werden darf, ist, dass die Finanzkrisen
öfters Credit Booms vorausgehen. Vor
diesem Hintergrund erläutert Gorton alle nennenswerten Finanzkrisen im
historischen Vergleich und gibt einen sehr detaillierten Überblick über
historisch wichtige Wendepunkte („Quiet Period“, „Livingston Doctrine“, „US
Free Banking Era“ von 1837-63, „National Bank Acts“ usw.)
Die Existenz der Fed hat, wie die Geschichte des
Bankwesens lehrt, das Verhalten der Haushalte verändert. Es gab im Juni 1920
oder im Oktober 1929 keinen Bank Run. Die Stürme auf die Banken kamen erst mit
der Great Depression. Was der Autor
immer wieder hervorhebt, ist der Mangel an angemessenen Daten, um Finanzkrisen
zu verstehen. Sein Vorschlag lautet daher die Einrichtung einer neuen
Informationsinfrastruktur.
Das Dodd-Frank Gesetz hat als Teil des US-Schatzamtes ein
Office of Financial Research (OFR) aufgebaut. Das OFR verfügt über eine
spürbare Macht: es hat die Befugnis für Zwangsvorladungen und es kann
Unternehmen zwingen, Informationen zu produzieren, wie z.B. über Trading
Positionen, Transaktionen, Vergütung (Bonus)
von Mitarbeitern. Was aber bislang unangetastet bleibt, ist das Paradox
zwischen Wall Street (financial sector)
und Main Street (real economy). Die
Tatsache, dass in der modernen Ära des Central Banking die Liquidation des
Banking Systems vermieden wird, wird vom Autor als „Livingston Doctrine“ (gestützt auf einen Gerichtsentscheid von damals)
bezeichnet.
Die Rettung des Bankensystems bedeutet die Rettung der Bankers.
Rettungsaktionen (bailouts) sind
Zahlungen zu Gunsten von Banker und zu Lasten von Steuerzahler, was der
amerikanische Finanzminister Tim
Geithner das „Paradox von Finanzkrisen“ schildert. Austan Goolsbee, der frühere Wirtschaftsberater von Präsident Obama
sagte einst, dass es fast so sei, als ob diese Männer den „Nobelpreis für Böses“
bekommen müssten. Die Antwort auf eine Krise ist politisch. Die Fähigkeit ohne
politische Einflussnahme zu agieren ist gering. Daher bedeutet die Rettung des
Bankensystems auch die Rettung der Banken. Es kann ein Finanzsystem gestaltet
werden, welches Finanzkrisen vermeidet. Aber es gibt ein Trade-off Probleme. Es entstehen Kosten auf der anderen Seite, hält
Gorton als Fazit fest.
Die Geschichte des Umgangs mit Finanzkrisen ist schon
immer eine der Vermeidung der Liquidation des Bankensystems gewesen, ob durch
die Zulassung der Aussetzung der Konvertibilität oder durch die Erklärung von
Bank Holidays. Solvenz von Banken ist nicht ein klar definierter Begriff,
erklärt Gorton.
Jamie
Dimon, CEO von JP Morgan hat vor
dem Untersuchungsausschuss (FCIC)
2011 auf die Frage, ob JP Morgan solvent ist, gesagt: „Die Antwort ist, ich
weiss es nicht“. Ob eine Bank insolvent (zahlungsunfähig) ist, wird immer nach
Gutdünken der Aufsichtsbehörden
festgelegt.
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