Samstag, 2. August 2014

„Kriterium 45+“ und Arbeitsmarkt

In letzter Zeit wurden in verschiedenen Tageszeitungen mehr oder weniger interessante und vermeintlich auf Fakten basierende Artikel oder Interviews mit sogenannten Kennern der Situation von Arbeitslosen veröffentlicht.

Dabei wurden unter anderen folgende Aussagen respektive Feststellungen gemacht oder angedeutet:

Arbeitslose haben die falschen Skills. Arbeitslose über 45 Jahren seien nicht teamfähig. Arbeitslosen über 45 Jahren fehle es an Flexibilität und Schnelligkeit. Arbeitslose über 45 Jahren seien resistent gegenüber Veränderungen. Arbeitslose seien nicht mehr lernfähig usw.

All dies sind generalisierende und tendenziell allen Fakten entbehrende Thesen und Behauptungen. Viel schwerer wiegt jedoch der entwürdigende und diffamierende Ton in solchen unbelegten Behauptungen.

Bezüglich falschen Skills machte beispielsweise die Boston Consulting Group (BCG) auf dem amerikanischen Arbeitsmarkt eine breit angelegte Studie, deren Resultat diese Behauptung weitestgehend widerlegt. Nachstehend der Link zum Bericht

Warum soll dies im schweizerischen Arbeitsmarkt anders sein? Aus welchen Gründen sollen unter 45-jährige teamfähiger sein als über 45-jährige sein? Kann es nicht eventuell sein, dass schwache Führungskräfte sich vor erfahrenen, gut ausgebildeten und innvovationsfreudigen älteren Mitarbeitern fürchten?

Bewerber (45+) sind keine Bittsteller. Den Menschen soll man nicht nur nach seinen Erfahrungen, sondern nach seiner Fähigkeit, Erfahrungen zu machen, messen.

Dass es Firmen und Personalvermittler gibt, welche schon klar oder auch verdeckt die Altersguillotine bei 45 ansetzen, unabhängig der ausgewiesenen Qualifikationen, ist schon sehr abartig und lässt für die Zukunft nur Schlechtes ahnen. 

Dass in diesem Kontext in Bern noch über das Erstrecken des Pensionierungsalters debattiert wird, spricht Bände.

Um ein umfassendes Bild zu erhalten, sind nachfolgende Marktparameter zusätzlich in Betrachtung zu ziehen: 

Arbeitslosenquote: Die Arbeitslosigkeit ist heute höher als vor dem Ausbruch der Finanzkrise von 2008 unter Arbeitnehmern aller Bildungsstufen und Branchen. Der Anteil gut qualifizierter über 45-jähriger Arbeitslosen ist überproportional hoch (ca. 41% gemäss SECO).

Löhne: Wenn die Arbeitgeber sich beklagen, keine geeigneten Arbeitskräfte zu finden, dann sollen sie etwas mehr Lohn bieten. Eine faire Entlöhnung für geforderte Profile ist tendenziell zunehmend ein Fremdwort unter Führungskräften. Lohndrückerei und daraus folgend Gefährdung des sozialen Friedens sowie der sozialen Stabilität unserer Volkswirtschaft werden damit in Kauf genommen. Das Fehlen unternehmerischer Verantwortung, also einer ausgeprägten Corporate Social Responsibility, welche ja immer gefordert wird, im rein fokussierten Share-Holder Value-Denken ist dominierend und wirkt auf eine gesunde und sich nachhaltig entwickelnde schweizerische Volkswirtschaft zerstörerisch (siehe auch John Kenneth Galbraith 1908 – 2006).

Das Lohnwachstum, das sich an der Produktivität des Landes und der Zielinflationsrate der Notenbank orientiert, kurbelt die Binnennachfrage an und fördert die Konjunktur. Nur nach dieser Faustregel steigende Löhne sorgen dafür, dass es in Zukunft genügend Arbeitsplätze gibt.

Langzeitarbeitslose: Die Langzeitarbeitslosigkeit ist seit dem Ausbruch der Finanzkrise von 2008 rasant gestiegen. Das „Problem“ der Langzeitarbeitslosen ist die Tatsache, dass sie seit 12 und mehr Monaten arbeitslos sind und vergleichbar wie aussätzige Menschen behandelt und betrachtet werden. Die Mehrheit der zuständigen Verantwortlichen haben nicht einmal das Interesse, die Qualifikationen von Langzeitarbeitslosen seriös zu prüfen und mittels eines persönlichen Gespräches deren vorhandene hohe Kommunikations- und Leistungsfähigkeit zu erfahren.

Fazit:

Arbeitslosigkeit ist heute in erster Linie ein Problem der Volkswirtschaft und der Unternehmen, nicht der Arbeitsmärkte. Das inländisch vorhandene Erfahrungs-, Wissens- und Fähigkeitspotential wird aus fragwürdigen Gründen nicht ausgeschöpft.

Wenn die gesamtwirtschafliche Nachfrage unterhalb des produktiven Kapazitätsniveaus der Wirtschaft bleibt, entsteht Arbeitslosigkeit und das (Human)-Kapital liegt ungenutzt herum. Die Volkswirtschaft verläuft nicht linear. Es ist eine Binsenwahrheit, dass Rezessionen die Arbeitslosigkeit mehr erhöhen als Booms diese reduzieren.

Zudem ist der Stellenwechsel ist in den vergangenen Jahren signifikant zurückgegangen. Der Arbeitsmarkt mit abnehmendem Turnover ist deshalb schwerer zugänglich.

Entscheidungsträger schützen sich heute mit sog. „Experten-Gutachten“ davor, Verantwortung zu übernehmen. Pauschal von mangelnden Qualifikationen zu reden, ist deshalb kein analytisches Ergebnis, sondern eine rhetorische Haltung.

Fachkräftemangel ist eine reine Arbeitgeberpropaganda, um die Löhne zu drücken. Deutschland bietet dazu ein besonders reichliches Anschauungsmaterial: Hochqualifizierte ausländische Fachkräfte werden zu einem Mindestlohn von 32‘500 EUR eingestellt, während diese Grenze früher bei 66‘000 EUR lag. 

Es ist bedauerlich, dass die Presse solche Schlagzeilen weitgehend ungeprüft übernimmt und weiter verbreitet.

PS:
Dieser Beitrag ist in Zusammenarbeit mit Hans-Peter Pfister (XING-Profil) entstanden.







2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Die Altersdiskriminierung schreitet voran: Erst bei 55 Jahren, dann bei 50, jetzt schon bei 45. Demnächst bei 40? ...

Der Artikel deckt sich mit meinen Erfahrungen. Und natürlich sind Menschen auch über 50 lernfähig und teamfähig, wie sie ständig unter Beweis stellen. Andere Behauptungen sind diffamierend.

Anonym hat gesagt…

Bemerkenswert in diesem Zshg: schon während der Weltwirtschaftskrise in den 30er Jahren, wurde von Unternehmern, einzelnen Wissenschaftlern, Journalisten das angebliche Mismatch-Problem erfunden: Arbeitsplätze gebe es genug, nur leider keine geeigneten Arbeitskräfte. 10 - 15 Jahre später war dieser Schwachsinn vergessen, der Arbeitsmarkt geräumt. Arbeitsplätze wurden besetzt WEIL die Arbeitskräfte knapp waren und man nicht wählerisch sein konnte. Ist die Produktivität deshalb z. B. gesunken? Nein. Die Produktivitätssteigerungen waren damals ebenso wie die Wachstumsraten damals auch die höchsten.