Buchbesprechung:
Michael
Lewis: A Wall Street Revolt. Flash Boys. W.W.Norton, New York, London 2014
Warum gibt es eine Differenz zwischen dem Aktienmarkt,
den man im Bildschirm an seinem Computer verfolgt, und dem tatsächlichen Markt draussen? Das ist der Ausgangspunkt. Ein junger Aktienhändler aus Kanada gab Michael Lewis den Anstoss, dieses Buch
über das sog. High Frequency Trading (HFT)
zu schreiben.
Das High Frequecy Trading ist eine etwas besondere Art
von Electronic Trading. Damit ist
bereits gesagt, dass der Markt nicht mehr derselbe ist, den man bisher zu
kennen glaubte. Und auf diesem „neuen“, von dem elektronischen
Hochfrequenzhandel geprägten Markt herrscht eine dubiose Praxis. Michael Lewis spricht sogar von Manipulation.
Dazu kommt, dass nach und nach auch die Grenzen
zwischen den Wall Street Brokers und Aktienbörsen verschwimmen. Die grossen
Banken an der Wall Street führen heute ihre eigenen privaten Börsenplätze (z.B.
Dark Pools). Und die grossen
Aktienbörsen versuchen, die Broker zu überzeugen, die Aktienmarkt-Aufträge an
die ausserbörslichen Handelsplattformen mit den welt-schnellsten Routers zu
leiten. Gelockt werden die Broker mit Vergütungen (kick-backs und fees),
während sie früher für die Aufträge, die sie ausführten, Gebühren zahlen
mussten, bekommen die Broker heute Provisionen.
Es gibt in den USA 13 offizielle Börsen und mehr als
50 ausserbörsliche Handelsplattformen. Wie ist es aber überhaupt möglich, dass
das Null-Summen-Spiel an der Börse derart pervertiert wird?
Die Protagonisten sind zum Teil unsichtbar. Auf der
einen Seite steht aber der Mensch: Das tief verwurzelte Problem ist moral inertia. Die Technologie ist auf
der anderen Seite angesiedelt: Algorithmus und Routers tragen in den
automatisierten Aktienmärkten das Entscheidende dazu bei, dass ahnungslose
Investoren über den Tisch gezogen werden. Der Schnellere gewinnt, dank einem
Informationsvorsprung, der nicht öffentlich zugänglich ist, während der
technisch Langsame verliert, ohne es wahrzunehmen.
Ermöglicht wird die Schröpfung der Investoren (wie z.B. Hedge Funds, Pensionsfonds und anderen Investoren)
durch das High-Speed-Trading via schnellere Datenübetragung (dank hochmodernen Routers
und Glasfaserkabel), die es erst ermöglicht, Aktien-Aufträge, bevor sie an
verschiedenen Börsen antreffen, abzufangen und in Millisekunden zum eigenen
Vorteil auszunutzen.
Das amerikanische Unternehmen Spread Networks hat dafür einen Tunnel durch den Allegheny Mountains in
Pennsylvania gebohrt, um zwischen Chicago
(Future Märkte) und New York (Aktien
Börse) Lichtwellenleiter zu verlegen. Damit die Flash Boys 3 Millisekunden
(d.h. 3 Tausendstel einer Sekunde) schneller traden können. Das ist ungefähr die
Zeitspanne, die die Hochfreuenzhändler benötigen, um in die Order Books an den
Aktienmärkten Einblick zu bekommen, und dann dementsprechend Positionen einzunehmen,
sei es Kauf und/oder Verkauf, ohne allerdings Risiken einzugehen und dem Markt
etwas Nützliches beizusteuern.
Das ist natürlich front-running
und eine illegale Handelspraxis. Jedesmal wenn Sie z.B. 1‘000 Aktien Microsoft
kaufen wollen, werden die Hochfrequenzhändler in Millisekunden davor, bevor Ihr
Kaufauftrag in den Bildschirmen an den Aktienbörsen öffentlich eingeblendet wird,
über Ihr Verhalten informiert.
Die HF-Trader können damit die besagten Aktien in
einem der zur Verfügung stehenden Dark Pools in Millisekunden vorher zu einem
tieferen Preis kaufen und an einem öffentlichen Börsenplatz zu einem höheren
Preis verkaufen.
Empirische Untersuchungen zeigen, dass z.B. im Preis
der Apple-Aktien an einem einzigen Handelstag 55‘000 Abweichungen gibt, zwischen
dem offiziell von SIP (Securities
Information Processor) ermittelten Preis und dem Preis, den die
Hochfrequenzhändler im Voraus sehen. Das heisst, dass ein HF-Händler an einem
einzigen Tag 55‘000 mal die Chance hat, die entsprechenden Aktien zu einem
tieferen Preis zu kaufen und dann sofort zu einem höheren Preis weiter zu verkaufen,
entweder in einem Dark-Pool oder an einer öffentlichen Handelsplattform.
Ein ursprüngliches Versprechen der Computer
Technologie war, die Anzahl der Intermediäre auf dem Finanzmarkt zu reduzieren,
ja sogar zu eliminieren. Oder zumindest die Summe, die sie am Markt an Spesen einstreichen,
zu verringern, um zur Kostensenkung beizutragen. Die Realität sieht hingegen anders
aus: HFT-Boys sind nicht nur unnötige Zwischenhändler, sondern Makler mit
besonderen Anreizen, weil sie in den Aktienmärkten Funktionsstörungen auslösen:
Erhöhte Volatilität, Fragmentierung der
Börsenlandschaft und der kostenlose Überblick über das Kauf- oder Verkaufsinteresse
der anderen Investoren, ohne sich dabei zu einem Trading verpflichten zu müssen.
HFT ist daher eine Art Insider Trading. Diejenigen Investoren, die eine gute
Research-Arbeit leisten, und gestützt darauf Empfehlungen abgeben, welche
Aktien zu kaufen, zu verkaufen oder zu halten sind, werden dadurch benachteiligt,
wenn parasitäre Händler mit einem Trick in Millisekunden sich durch einen Informationsvorsprung
Vorteile zu Lasten der anderen Investoren verschaffen können.
Ist Mehr-Geschwindigkeit aber im Allgemeinen notwendig,
um Finanzmärkte effizient funktionieren zu lassen? Nein. All die Ressourcen, wie
z.B. Supercomputers, Servers und hunderte Kilometer von Glasfaserkabel (fiber-optic cable) sind aus ökonomischer
Sicht nicht anders als eine reine soziale Verschwendung, die in der Wirtschaft sonst
hätten besser investiert werden können.
Die Verfechter von HFT argumentieren dennoch, dass sie
damit die Liquidität am Markt erhöhen. Was sie mit „Liquidität“ meinen, ist allerdings
nicht anders als erhöhte Aktivität und
Handelsvolumen, wovon ja in erster Linie sie selbst profitieren. Und etwas darf
man auch nicht ausser Acht lassen, dass die HF-Trader jeden Abend mit
Null-Positionen nach Hause gehen. Das heisst, dass die Blitzhändler den Tag mit
Null-Risiko abschliessen.
Broker werden veranlasst, Aufträge dort auszuführen,
wo sie am besten vergütet werden,wobei der Preis der gehandelten Aktie
keineswegs besser wird, sondern in den meisten Fällen ein schlechterer ist.
Damit Aufträge dorthin geleitet werden, stellen die Betreiber von Dark Pools schnellere Routers zur
Verfügung, indem sie eigene Servers möglichst nahe zu den öffentlichen
Börsenplätzen unterbringen, damit das schnellste Raubtier sich die fetteste
Beute holen kann.
Natürlich muss erwähnt werden, dass auch die Routers
und die Algorithmen durch die Menschen entworfen werden. Wenn man aber mit HFT
zu tun hat, hat man in erster Linie keinen Menschen vor sich, kein Gesicht, sondern
nur einen Computer.
Wie sieht es eigentlich mit der Regulierung aus? Eine Bemerkung
vorab: Seit 2007 haben mehr als 200 Mitarbeiter der US-Börsenaufsicht (SEC) ihre öffentlich-rechtlichen Jobs
aufgegeben, um für die HFT-Firmen zu arbeiten oder in Washington Lobby-Arbeit
für HFT zu machen. Das betreffende Gesetz „Reg
NMS“, das 2005 verabschiedet und 2007 implementiert wurde, hat ein Schlupfloch,
sodass die ursprüngliche Zielsetzung „Gleichstellung von Chancen im
Aktien-Handel“ von HF-Traders unterlaufen werden darf.
Kann HFT aber reformiert werden? Oder soll das electronic trading à la HFT gar
abgeschafft werden? Das sind Fragen, auf die die Politik Antworten geben muss. Unmittelbar nach der Veröffentlichung dieses
Buches hat die New Yorker Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen unfaire
Geschäftspraktiken im HFT eingeleitet. Es gibt u.a. Vorschläge, Steuern
auf Financial Transactions für Aktien, Bonds und Derivate zu erheben.
Der Handel an den Aktienmärkten ist derart grotesk ungerecht geworden, dass Brad Katsuyama
seinen jährlich mit 2 Mio. USD dotierten Job aufgab, um ein System zu bekämpfen,
wo er, wenn er dabei geblieben wäre, noch mehr Geld hätte verdienen können. Der
junge Aktienhändler, der als Hauptdarsteller im Lewis Buch agiert, hat bei der Royal Bank of Canada (RBC) gearbeitet.
Die mysteriösen Kursentwicklungen im Aktienmarkt sind ihm
im Jahr 2007 aufgefallen, sodass er begann, aktive Erforschungen anzustellen. Der
Plan war, anhand eines neu zu schaffenden Programms mit eingebauten
Verzögerungen zu verhindern, dass die Aktien-Aufträge an den verschiedenen
Börsen zeit verzögert ankommen, damit HF-Trading keinen Zeitvorsprung mehr hat. Nach
und nach gingen Katsuyama und seine
Kollegen dazu über, einen neuen Börsenplatz IEX Group zu gründen, um „Fairness zu institutionalisieren“, wie
sie sagen, d.h. einen fairen Handel mit Aktien zu gewährleisten.
Katsuyamas Empfinden für die Gerechtigkeit ist so
eindrücklich, dass es ihm nicht einmal darum ging, die Hyänen und Geier in der
Savanne zu vernichten, sondern lediglich die Gelegenheit zum Töten zu
beseitigen. Gemeint ist die Unterbindung der (dank der schnelleren
Datenübertragung und der Komplexität) bevorzugten Behandlung der Transaktionen
von HF-Händlern durch verschiedene Börsenplätze. Es mag vorkommen, dass A eine
Information früher als B in Erfahrung bringt. Das lässt sich nicht verhindern.
Aber man soll kontrollieren können, wie viele Schritte A zur Monetisierung genau
dieser Information unternimmt, so das Team um Katsuyama, wie Lewis meisterhaft
spannend schildert.
Die guten Menschen an der Wall
Street versuchen, die positiven Effekte der Aufrichtigkeit zu zeigen. Erstellen
von Fairness ist nämlich bemerkenswert einfach. Die Frage am Anfang lautet
nicht, „wer ist unser Feind“, sondern „mit wem sind wir verbündet?“
Das ist mit Sicherheit Lewis‘ beste Buch, das er über
die Wall Street je verfasst hat. Der Autor liefert zugleich eine hervorragende
Vorlage für die Verfilmung der ruchlosen Geschichte der digitalen Plünderer im
postmodernen Umfeld des Aktienhandels in Amerika. Ein grossartiges Buch. Überragend.
PS:
Dark Pools haben Bezeichnungen wie Ambush (Hinterhalt),
Nighthawk (Nachtfalke), Raider (Plünderer), Dark Attack, Sumo, Dagger (Citi),
Slicer (Deutsche Bank) und Guerrilla (Credit Suisse).
2005 belief sich der Anteil von HFT-Tradings in
öffentlichen Aktienbörsen auf ein Viertel. 2008 ist der Anteil auf 65%
hochgeklettert. Und die Spreads zwischen Geld-und Brief-Kursen ist währenddessen
von 0,16% auf 1% gestiegen.
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