Buchbesprechung
Paul de Beer: “The Labor Market Myth” - How the Market Metaphor Hinders Our Understanding of Work, Edward Elgar Publishing, 2025, UK.
Jeden Tag wird uns erzählt, dass Jobs zum „Arbeitsmarkt“ gehören. Politiker, Ökonomen und Journalisten sprechen davon, als wäre es ein Bauernmarkt für Kartoffeln:
Arbeitnehmer bieten ihre Arbeitskraft an, Unternehmen fragen sie nach, und Löhne sind der Preis, der beide Seiten ausgleicht. Übersteigt die Nachfrage das Angebot, steigen die Löhne. Übersteigt das Angebot die Nachfrage, sinken die Löhne. Einfach, übersichtlich, effizient.
Das Problem ist, dass dieses Bild ein Mythos ist. Der „Arbeitsmarkt“ ist kein Markt – und ihn als solchen zu behandeln, macht uns blind dafür, wie Arbeit und Löhne tatsächlich funktionieren.
Das falsche Versprechen des Gleichgewichts
Die Lehrbuchökonomie behauptet, dass ein Mangel an Arbeitskräften automatisch zu einem Anstieg der Löhne führen sollte, während ein Überschuss an Arbeitskräften zu einem Rückgang der Löhne führen sollte.
In der Praxis funktioniert jedoch keiner dieser Mechanismen reibungslos. Löhne sind bekanntlich „träg” («sticky» und «rigid»). Unternehmen sträuben sich oft gegen Lohnerhöhungen, selbst wenn Arbeitskräfte knapp sind, und ziehen es vor, mehr aus den vorhandenen Mitarbeitern herauszuholen, zu automatisieren oder auszulagern.
Auf der anderen Seite akzeptieren Arbeitnehmer selten Lohnkürzungen ohne Protest. Sie kündigen, schließen sich Gewerkschaften an oder engagieren sich weniger.
Die Vorstellung eines ordentlichen Gleichgewichts ist irreführend: Arbeit ist kein Sack Kartoffeln, der auf einer Auktion gekauft und verkauft werden kann, sondern menschliche Leistung, eingebettet in Institutionen, Verträge und Machtverhältnisse.
Warum Lohnkürzungen Arbeitsplätze vernichten
In der Standard-Markttheorie sind Angebots- und Nachfragekurven voneinander unabhängig. Im Falle der Arbeit sind sie jedoch eng miteinander verflochten.
Wenn die Löhne sinken, haben die Haushalte weniger Einkommen. Weniger Einkommen bedeutet weniger Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen. Und wenn die Nachfrage einbricht, stellen Unternehmen keine neuen Arbeitskräfte ein – sie entlassen sie. Was eigentlich die Lösung sein soll (niedrigere Löhne), verschlimmert letztendlich das Problem (Arbeitslosigkeit).
Die beiden Kurven sind auf Makroebene nicht unabhängig voneinander. Lohnkürzungen „bereinigen“ den Markt nicht. Sie schrumpfen ihn.
Der Mythos der Produktivität
Eine weitere Illusion ist, dass Löhne die Produktivität widerspiegeln – dass jeder Arbeitnehmer entsprechend seiner marginalen Leistung bezahlt wird. In Wirklichkeit ist dies in einer modernen Dienstleistungswirtschaft fast unmöglich zu messen.
Wie quantifiziert man die Produktivität eines Lehrers, einer Krankenschwester oder eines CEOs? Selbst in der Fertigung ist die Produktion das Ergebnis von Teamarbeit, Technologie und Organisation, nicht der isolierten Leistung eines einzelnen Arbeitnehmers.
Löhne werden nicht durch Produktivität bestimmt. Sie werden durch Verhandlungsmacht, Institutionen und politische Entscheidungen bestimmt.
Der Autor nennt mindestens vier Faktoren, die eine entscheidende Rolle spielen: „Ihre Kategorie, Ihre Beziehung, Zufall und Ihre aktuelle Position“. Die Produktivitätsgeschichte ist eine tröstliche Fiktion, die die tatsächlichen Mechanismen der Lohnfestsetzung verschleiert.
Warum die Metapher schädlich ist
Die Arbeitsmarkt-Metapher ist nicht nur ungenau, sondern auch schädlich. Sie reduziert menschliche Arbeit auf eine Ware und legitimiert politische Maßnahmen, die Arbeitslosigkeit als natürliches Ergebnis der Marktkräfte betrachten, anstatt als Produkt von Politik und Macht. Sie suggeriert, dass die Unterdrückung von Löhnen ein Weg zu mehr Effizienz ist, obwohl sie die Nachfrage untergräbt und die Wirtschaft schwächt.
Indem sie Arbeitsplätze als „Marktergebnis“ darstellt, entbindet sie die Politik von ihrer Verantwortung. Wenn Arbeitslosigkeit nur ein Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage ist, dann brauchen Regierungen nicht einzugreifen. Aber wenn Arbeit kein Markt ist, dann ist Arbeitslosigkeit eine Entscheidung – das Ergebnis von Sparmaßnahmen ("austerity"), Unterinvestitionen oder fehlgeleiteter Politik.
Jenseits des Mythos
Es gibt keinen perfekten Arbeitsmarkt, und es ist nicht klar, ob wir einen solchen überhaupt wollen würden, wenn es ihn gäbe. Die menschliche Arbeitskraft als Ware («commodity») wie Weizen oder Stahl zu behandeln, verkennt, was Arbeit wirklich bedeutet: Sicherheit, Würde und Teilhabe an der Gesellschaft.
Der „Arbeitsmarkt” ist ein Mythos. Und wenn wir daran festhalten, blenden wir uns selbst gegenüber den tatsächlichen Kräften, die Arbeitsplätze, Löhne und Wohlstand beeinflussen. Was wir stattdessen brauchen, ist ein Rahmenkonzept, das Beschäftigung als soziale und makroökonomische Institution anerkennt – etwas, das viel zu wichtig ist, um es den imaginären Kurven von Angebot und Nachfrage zu überlassen.
Das Modell des „Preismechanismus“ hat die Ursachen und Lösungen für Arbeitslosigkeit lange Zeit falsch interpretiert. Paul de Beer, Professor an der AIAS-HSI, Abteilung Arbeitsrecht an der Universität Amsterdam, Niederlande, liefert eine aufschlussreiche Darstellung dieses Versagens und präsentiert eine brillante und klare Darstellung der inhärenten Logik des „Arbeitsmarktes“. Ein Meisterwerk, das man unbedingt lesen sollte.
Paul de Beer: “The Labor Market Myth” - How the Market Metaphor Hinders Our Understanding of Work, Edward Elgar Publishing, 2025, UK. |
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